Probefahrt VW AmarokAuferstehung eines Fabelwesens
Pick-ups sind in unseren Breitengraden nach wie vor Exoten. Dennoch lanciert VW eine zweite Generation des Amarok.

Ein Riesenwolf, der jeden tötet und frisst, der töricht genug ist, sich in seine Nähe zu wagen – so umschreiben die indigenen Völker im nördlichen Kanada und in Alaska das Fabelwesen Amarok. Er sei deutlich grösser als ein normaler Wolf und jage nicht im Rudel, sondern stets allein. Und wie der Riesenwolf Waheela, der in Alaska sein Unwesen treiben soll, habe der Amarok längere Vorderläufe als Hinterbeine. Beide Wesen kommen übereinstimmend in Erzählungen der Inuit und der Yupik vor – bewiesen wurde ihre Existenz allerdings bis heute nicht.
Wieso Volkswagen ein gefürchtetes Mythenwesen als Namensgeber für seinen Pick-up gewählt hat, ist nicht überliefert. Doch es lassen sich durchaus Parallelen ziehen: Auch der VW ist riesig, zumindest hierzulande, wo er mit 5,35 Metern Länge die meisten anderen Autos übertrifft. Und wie der Riesenwolf tritt auch der Pick-up selten im Rudel auf, obwohl er mit weltweit über 830'000 verkauften Einheiten der ersten Modellgeneration keine Randerscheinung ist. In Europa fahren die Pritschenwagen aber nach wie vor in der Nische, trotz steigender Beliebtheit der sogenannten Lifestyle-Pick-ups.
Kooperation trägt Früchte
Nachdem VW 2010 mit dem Amarok gestartet war, wollten auch Mercedes und Renault in diesem Segment Fuss fassen. Beide scheiterten jedoch nach kurzer Zeit und zogen sich wieder aus dem Pick-up-Geschäft zurück. Auch der VW Amarok stand auf der Kippe: In Europa wurde die Produktion des 2010 lancierten Vorgängermodells im Mai 2020 eingestellt, nur in Südamerika wurde das Modell seither noch gebaut und verkauft. «Ohne die Kooperation mit Ford hätte es keine zweite Modellgeneration gegeben», bestätigt Pressesprecher Andreas Gottwald. Der neue Amarok ist unter dem Blech nämlich ein Ford Ranger – die Entwicklung für ein solches Nischenmodell allein zu stemmen, ist heute nicht mehr wirtschaftlich, weshalb gerade im Nutzfahrzeugbereich gern Kooperationen eingegangen werden. Deshalb rollt der neue Amarok nicht mehr in Hannover, sondern bei Ford in Südafrika vom Band. Im Gegenzug hat Ford den Hochdachkombi VW Caddy übernommen und ihn zum Tourneo Connect umgeformt. Rund acht Millionen Nutzfahrzeuge wollen die beiden Marken so gemeinsam produzieren.

Die enge Verwandtschaft zum Ranger ist dem neuen Amarok aber nicht anzusehen. «Die Gestaltung ist zu 100 Prozent Volkswagen», betont Gottwald. Chefdesigner Albert Kirzinger ergänzt: «Wir haben das archetypische Design mit der neuen Generation signifikant verändert. Es ist jetzt eindeutig expressiver.» Tatsächlich hat der Pick-up eine stärkere Präsenz, wirkt nicht nur moderner, sondern auch bulliger – der Riesenwolf lässt grüssen. Der Innenraum hingegen ist elegant und komfortabel, zumindest in den an der Fahrvorstellung verfügbaren Topvarianten Aventura und PanAmericana, wobei sich die eine auf Offroad-Kompetenz, die andere auf Strassenkomfort fokussiert. Der grosse Touchscreen im Hochformat, über den das Infotainmentsystem bedient wird, sowie der digitale Tacho erinnern an Ford, der Rest sieht nach VW aus.
Tadellos on- und offroad
Dass der neue Amarok sich dank ausgeklügeltem Allradsystem, guten Böschungswinkeln und einer hohen Bodenfreiheit problemlos durch das Gelände wühlen kann, erstaunt nicht – über einen Drehschalter in der Mittelkonsole kann von einem Automatikmodus, bei dem das System die Antriebskraft variabel zwischen den vier Rädern verteilt, über den 4H-Modus für Allradfahrten auf der Strasse bis zum Geländemodus 4L mit Getriebeuntersetzung auswählen. Für besonders effizientes Fahren steht auch ein Modus mit reinem Heckantrieb (2H) zur Wahl. Überraschend ist hingegen der Fahrkomfort auf der Strasse – von der Rustikalität eines Nutzfahrzeugs ist nichts zu spüren. Wie in einer Luxuslimousine dringen von Motor, Wind und Fahrwerk kaum Geräusche in den Innenraum. Unebenheiten werden locker weggefedert, und auch schnelle Kurven und enge Kehren bringen den Pick-up nicht ins Wanken. Der Sitzkomfort ist top, die Platzverhältnisse in beiden Reihen sehr gut, was bei dieser Fahrzeuggrösse kaum überrascht.
Nicht ganz so fortschrittlich wie Innenraum und Fahrverhalten ist die Antriebspalette des neuen Amarok. Zum Marktstart im April gibt es ihn nur mit Verbrennungsmotoren. In der Schweiz werden ausschliesslich Dieselvarianten angeboten, ein 2-Liter-Vierzylinder mit 125 kW/170 PS oder 150 kW/204 PS sowie ein 3-Liter-Sechszylinder mit 177 kW/240 PS. Allradantrieb und 10-Gang-Automatik sind Standard. Ob es bei diesen Varianten bleibt, ist offen. Die Plattform des Rangers lässt eine Elektrifizierung zu, ein Plug-in-Hybrid oder ein reiner Elektroantrieb wäre machbar. «Möglich ist auf dieser Plattform vieles», deutet VW-Sprecher Andreas Gottwald vielsagend an, ohne konkret zu werden. E-Pick-ups erfreuen sich derzeit wachsender Beliebtheit, besonders in den USA – da wäre eine elektrische Variante nicht abwegig. Zudem nähme ein Elektroantrieb dem Riesenwolf den Schrecken. Zumindest etwas.
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