Das «andere Italien» erwacht
Hunderttausende auf den Strassen und an den Urnen: Ein Jahr nach den Parlamentswahlen rührt sich Widerstand gegen die Populisten.

Sie nennen sich «das andere Italien». Und für einmal war dieses weltoffene und europafreundliche, eher linke Italien ein Wochenende lang lauter als das Italien der Populisten, der rechten Lega also und der Cinque Stelle, die das Land regieren. So laut und fröhlich bunt sogar, dass sich die Opposition nun nach langer, lethargischer Ohnmacht selbst ein bisschen Mut macht.
In Mailand sind am Samstag etwa 200'000 Menschen auf die Strasse gegangen, um gegen Rassismus und Diskriminierung von Flüchtlingen zu demonstrieren. Sie zogen durch die Strassen, der Marsch endete auf der Piazza del Duomo, so etwas wie das Wohnzimmer der Stadt, wo ein DJ Musik auflegte. Es wurde viel gesungen und getanzt. Giuseppe Sala, der linke Bürgermeister der Stadt, sprach von einer «Wasserscheide», der man da beiwohne, und schwang seine Hüften zum Song «People Have the Power».
Überrascht vom eigenen Erfolg
Auf den Spruchbändern konnte man lesen: «Wir sitzen alle im selben Boot.» – «No walls.» – «Die Welt gehört allen.» – «Wir sind alle gleich.» Man sah auch wieder die Regenbogenfahnen der Friedensbewegung mit der Aufschrift «Pace» und die italienische Trikolore: Die Nationalisten sollen kein Monopol darauf haben. Die Kundgebung stand unter dem Motto «People – zuerst die Personen». Es war als Antwort auf die Losung «Zuerst die Italiener» von Matteo Salvini gedacht, dem rechten Innenminister und starken Mann der Regierung.
Aufgerufen hatten humanitäre Organisationen, die nationale Vereinigung der antifaschistischen Widerstandskämpfer aus dem Zweiten Weltkrieg, die grossen Gewerkschaftsbünde und der sozialdemokratische Partito Democratico, kurz PD. Selbst die Organisatoren waren überrascht vom Erfolg ihrer Mobilisierung. Es marschierten auch viele prominente Italiener mit, unter anderem der Liedermacher Roberto Vecchioni und der Schauspieler Claudio Bisio.
Romano Prodi, der frühere Ministerpräsident Italiens, sah in der Kundgebung schon die erste Regung eines «Erwachens». «Wenn eine Regierung gewisse Grenzen überschreitet, reagieren die Leute», sagte der pensionierte Politiker. Die Frage ist allerdings, wie massiv diese Reaktion tatsächlich ist. In den jüngsten Umfragen ist Salvinis Lega noch einmal gewachsen: 36 Prozent der Italiener sagen, sie würden heute Lega wählen. Die Fünf Sterne dagegen verlieren weiter an Zuspruch, mittlerweile stehen sie bei 21 Prozent.
Diesmal galt als Ziel: eine Million. Am Ende wählten aber mehr als 1,5 Millionen. Der Römer Zingaretti, ein moderater Linker, 53 Jahre alt, gewann deutlich
Salvini gab sich dann auch unbeeindruckt von der Demo in seiner Heimatstadt: «Ich ändere meine Meinung nicht», sagte der Mailänder, «ich führe meine Politik fort für das Gemeinwohl der Italiener.» Andere Exponenten der Lega richteten aus, die Sozialdemokraten hätten mal wieder bewiesen, dass ihnen die «illegalen Einwanderer» wichtiger seien als die Italiener. Die regierungsnahen Sender des Staatsfernsehens, RAI Uno und RAI Due, berichteten in ihren Nachrichten erst an dritter oder vierter Stelle über den Marsch, den grössten in jüngerer Vergangenheit. Die Verhaftung eines Bosses der Camorra, Neapels Mafia, hielten sie für relevanter.
Ganz vorne dabei waren in Mailand auch die zwei aussichtsreichsten Kandidaten für den Vorsitz des PD: Maurizio Martina, der ehemalige Landwirtschaftsminister, und Nicola Zingaretti, der Gouverneur der Region Lazio. Fast auf den Tag genau ein Jahr nach der Niederlage bei den Parlamentswahlen vom 4. März 2018 veranstaltete die Partei am Sonntag nun ihre Primärwahlen. Etwas gar spät und zerrissen von internen Intrigen. Gewählt wurde der Nachfolger von Matteo Renzi, dem früheren Parteisekretär. Renzi hatte Italien drei Jahre lang regiert und war dann recht abrupt in Ungnade gefallen.
Selber trat der Florentiner nicht mehr an, doch sein Einfluss auf die Partei ist noch immer gross, da die meisten Mitglieder der beiden Fraktionen im Senat und im Abgeordnetenhaus «Renzianer» sind oder einmal waren. Wer auch immer neuer Sekretär werde, sagte Renzi, müsse kein «friendly fire» von ihm befürchten, «keine parteiinterne Guerilla», wie er es seinerzeit habe erdulden müssen. Da schwang noch viel Ressentiment mit, verletzter Stolz auch. Immer wieder heisst es, Renzi arbeite daran, eine eigene Partei zu gründen. Er dementiert die Gerüchte. Wahrscheinlich will er zunächst einmal schauen, wie sich der PD jetzt entwickelt. In den Umfragen steht der gegenwärtig bei etwa 19 Prozent.
Zingaretti gewinnt deutlich
Die langen Warteschlangen vor den weissen Wahlzelten deuteten darauf hin, dass die Lust an der Partei wieder steigt. Insgesamt 7000 solcher Pavillons hatten die Sozialdemokraten aufgestellt, überall im Land. Der PD ist die einzige politische Gruppierung in Italien, die ihre Spitze bei richtigen Urwahlen im Volk bestellt – mit Wahlzetteln und Wahlhelfern.
Beim PD konnte wieder jeder teilnehmen, der in Italien seinen Wohnsitz hat, eine Identitätskarte auf sich trug und zwei Euro für die Unkosten bezahlte. Bei früheren Primärwahlen machten jeweils mehrere Millionen mit. Bei Renzis letztem Sieg waren es 1,8 Millionen. Diesmal galt als Ziel: eine Million. Am Ende wählten aber mehr als 1,5 Millionen. Der Römer Zingaretti, ein moderater Linker, 53 Jahre alt, gewann deutlich. Das «andere Italien» ist gerade dabei, langsam aufzuwachen.
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