Der Titel für Stucki, das Sägemehl für die Tonne
Christian Stucki (32) bezwingt seinen Verbandskollegen Curdin Orlik (24) im Schlussgang in extremis und sichert den Bernern den ersten Unspunnen-Sieg seit 30 Jahren.
Zwei Berner im Schlussgang. Da kann doch nichts mehr schiefgehen. Oder doch? Als sich Christian Stucki und Curdin Orlik am späten Sonntagnachmittag auf der Höhematte vor dem letzten Kampf die Hand reichen, ist die Ausgangslage für den Berner Teilverband ausgezeichnet.
Bei einer Entscheidung im Schlussgang holen sich die Berner den ersten Unspunnen-Sieg seit 30 Jahren. Nur: Bei einem Gestellten würde Joel Wicki den Sieg erben – ein Innerschweizer. Dies wollen die Berner mit aller Kraft vermeiden: «Schwingt offensiv, riskiert!», gibt Teamchef Peter Schmutz seinen zwei Schützlingen mit auf den Weg ins Sägemehl. Stucki (32) und Orlik (24) schreiten vor dem finalen Kräftemessen zum Brunnen. Die Teamkollegen erheben sich, säumen den Weg in den Ring, applaudieren.
Zwei Berner im Schlussgang. Da kann doch nichts mehr schiefgehen. Oder doch? Stucki und Orlik beginnen verhalten, sie gehen keine Risiken ein. Schliesslich haben sie eine gute Viertelstunde Zeit für den entscheidenden Zug. Wenige Meter nebenan sitzt Wicki im Rasen. Er wirkt äusserlich gelassen, hat die Beine gestreckt und erweckt den Eindruck, als rechne er überhaupt nicht damit, zum lachenden Dritten zu werden. Doch die Zeit zerrinnt, im Publikum macht sich Ungeduld breit. «Noch sechs Minuten», ruft Schmutz. Wicki kniet mittlerweile, die Haltung wirkt nicht mehr ganz so locker. Noch fünf Minuten. Nun eilt Stuckis Vater Willi herbei, legt sich auf die Wiese, ruft seinem Sohn zu: «Chum, Chrigu! Hü itz! No einisch!»
Noch zwei Minuten. Jetzt gehen die Schlussgangteilnehmer «all in» – wie von den Teamverantwortlichen vorgegeben. Nicht vorgegeben war natürlich, wer das bessere Ende für sich behalten würde. Die Nervosität ist allenthalben spür- und sichtbar. 62 Sekunden vor Schluss liegen Stucki und Orlik im Sägemehl. Kurz zuvor hat Erstgenannter zum entscheidenden Schwung angesetzt. «Ich bin überwältigt – und am Ende», sagt Stucki.
Im Schlussgang bezwingt er Orlik Curdin. Quelle: SRF
Seinen wichtigsten Erfolg seit dem Sieg in Kilchberg 2008 musste sich der Lysser hart erarbeiten. Er hat nunmehr zwei von drei Anlässen mit eidgenössischem Charakter im Palmarès und steigt endgültig in den Kreis der erfolgreichsten Schwinger auf. Was ihm fehlt, ist der Titel des Schwingerkönigs. «Stuckis Erfolg ist in Anbetracht des Saisonverlaufs hochverdient», sagt Matthias Glarner, der seit letztem Jahr ebendiesen Titel besitzt. Glarner sitzt auf der Tribüne, neben ihm Mark Streit. Der NHL-Profi verfolgt das Fest im roten Schwingerleibchen – eine Hommage an Freund Stucki. «Ich habe das Hemd nicht von Chrigu erhalten», stellt Streit klar. «Seine Kleider könnte ich nur als Nachthemden gebrauchen.» Mit Streit freut sich ein Grossteil der 15'800 Zuschauer. Stucki ist in der Szene von jeher ein Sympathieträger.
Der Sieger liefert mit seinem Triumph die Schlagzeile des Fests, für die Geschichte des Tages sorgt aber Curdin Orlik. Viel war im Vorfeld über Orlik geschrieben worden, allerdings über Curdins Bruder Armon, den meistgenannten Konkurrenten der Berner. Der 22 Jahre alte Armon schwingt für die Nordostschweizer, der 2 Jahre ältere Curdin seit dieser Saison für die Berner, weil er in Zollikofen Agronomie studiert und mit seiner Partnerin und dem gemeinsamen Kind in Kandersteg lebt. Nach dem fünften Gang meint ein Betreuer, der nicht aus dem Bernbiet stammt: «Für uns steht der falsche Orlik im Schlussgang.»
Das Interview mit dem Unspunnen-Sieger. Video: SDA
Vor dem letzten Kampf tauschen sich die Brüder aus, besprechen die Marschroute: Abwarten, bis Stucki ermüdet, dann zuschlagen. Die Taktik geht nicht auf, trotzdem wird Curdin Orlik beglückwünscht. «Ich bin megastolz, aber auch enttäuscht», sagt er, der «im Herzen ein Bündner» geblieben, aber im Berner Team «bestens integriert» worden sei.
Schwingen als Zeichen geglückter Integration? Es ist ein Unding, den Sport zu verpolitisieren. Aber der Unspunnen-Schwinget 2017 hat zumindest gezeigt, was die Mischung aus Sport, Tradition und Moderne ausmacht. Zum Bild des friedlichen Schwingfests gehört, dass die Athleten für die Zuschauer Stars zum Anfassen sind. Eine jede und ein jeder hat Zugriff auf die Athleten, bekommen zwischen Sägemehlring und Garderobe das gewünschte Autogramm und Foto. Ein kleines Mädchen zeigt sich speziell beeindruckt, als es Stucki just auf dem Weg zum Mittagessen kreuzt. Mit Begeisterung meint es zum Vater: «Du, Papa, Schwinger sind Riesenviecher!»
Verhältnismässig klein gewachsen ist Joel Wicki. 183 Zentimeter gross ist der Sörenberger, aber ungemein explosiv. Wicki zeigt in Interlaken eine herausragende Leistung: Im ersten Gang fehlen ihm gegen Kilian Wenger ein paar Millimeter zum Sieg. Danach bezwingt er auf spektakuläre Weise Willy Graber, Bernhard Kämpf, Armon Orlik – und doch fehlt ihm zur Schlussgangteilnahme ein Viertelpunkt. Zum Abschluss drückt er den Appenzeller Michael Bless im ersten Zug ins Sägemehl und beendet das Fest hinter Stucki auf Platz zwei. «Ich habe nicht damit gerechnet, den Sieg zu erben. Die Berner durften es sich nicht leisten, den Schlussgang zu stellen», sagt Wicki. «Ich hoffe, dass auch wir Innerschweizer wieder einmal zwei Schwinger in einem Schlussgang eines grossen Fests haben werden.»
Der Lysser ist nicht nur Unspunnen-Sieger, sondern auch Sieger der Herzen, wie unsere Umfrage zeigt. Video: Florine Schönmann
Die Gegenwart gehört den Bernern. Es versteht sich von selbst, entsprechen die Erfolge nicht einer Laune des Schicksals. Vielmehr investieren die Verantwortlichen des Berner Verbands viel Zeit und Leidenschaft. Das Betreuerteam ist professionell und vielköpfig. Und im Zentrum steht der Teamgeist. Was selbstverständlich klingt, in einer Individualsportart aber alles andere als selbstverständlich ist.
Seit 2014 nehmen die Berner von jedem gewonnenen bedeutenden Fest eine Hand voll Sägemehl mit. Dieses «Siegersägemehl» wird in einer Tonne gesammelt, die an jedem Fest in der Garderobe steht. Vor jedem Gang soll der Griff in dieses Sägemehl den Schwingern ein gutes Gefühl geben. Dank Stuckis Triumph kommt die nächste Ladung hinzu. Peter Schmutz sagt: «Wir machen weiter. Es hat noch Platz für mehr.» Die Worte des Teamchefs klingen wie eine Drohung an die Konkurrenz.
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