Des Lehrers Lebensschule
1971 hat sich Ruedi Tschanz in Zimmerwald als Dorflehrer beworben. Ende Juni tritt er ab. Geschichten aus 46 Jahren Erlebnispädagogik auf dem Lande, wo Französisch auch etwa durch schlüpfende Schmetterlinge ersetzt wurde.

Als er mal wieder aufspringt und ein Buch aus dem Gestell zerrt, die Aquarelle an der Wand erklärt und nach den Schmetterlingslarven sieht, gesteht Ruedi Tschanz: «Ja, vielleicht ist das Schulzimmer mein stärkstes Lehrmittel.»
Tschanz ist 67 jetzt, der Bart ist grau geworden, der Geist ist hell geblieben. Tschanz ist Lehrer, einer von rund 13 000 im Kanton Bern. Er sitzt in seinem Schulzimmer, 46 Jahre Unterricht auf 40 Quadratmetern, und alleine das macht ihn speziell.
Es ist ein Museum der Erstaunlichkeiten, ein regelrechter Markt, auf dem das Angebot Tschanz sich endlos ausbreitet, und es ist auch Argumentationsgrundlage für seine Ansichten und Erfahrungen an der Schule Wald in Zimmerwald.
Leben, nicht unterrichten
Hier, in der Gemeinde auf dem Längenberg, hat Tschanz unterrichtet. Wobei Unterricht seinem Wirken kaum gerecht wird. Tschanz gibt keinen Unterricht, er lebt ihn, vermittelt direkt aus dem Leben und versucht dabei eine Einheit aus Ort, Zeit und Stoff zu bilden.
Seit Jahren züchtet er mit den Schülern Schmetterlinge, und wenn die gerade schlüpfen, dann ist das ein Ereignis, auch wenn gerade Französisch ansteht. «Le papillon statt Passé composé», sagt Tschanz.
Natürlich ist Tschanz Klassenlehrer, die fünfte und die sechste zusammen in einem Zimmer, er könnte kaum nur ein Fach unterrichten, und natürlich hätte er an einer grossen Schule seinen besonderen Stil kaum entfalten können. Angekommen in Zimmerwald ist er 1971. Damals hatte die Gemeinde etwa 400 Einwohner, es gab weder Strassennamen noch Hausnummern.
Mitten in dieses Idyll stiess damals der 21-jährige Tschanz, frisch vom Lehrerseminar, gestärkt vom Auslandaufenthalt in England, erquickt von ein paar Monaten Savoir-vivre in Lausanne. «Den Bewerbungsprozess habe ich souverän für mich entschieden», erzählt der einzige Bewerber heute.
Tschanz wurde und wirkte, heiratete seine Freundin, sie zogen in die Lehrerwohnung neben dem Schulhaus ein, er dirigierte neben der Schule den Männerchor, spielte den Samichlous, kurz: er verschrieb sein Leben dem Ort, der Gemeinde. «Damals gab es noch eine Wohnsitzpflicht, das war selbstverständlich», erinnert sich Tschanz.
Der Stil Tschanz
Entstanden ist der Stil Tschanz, eine Lebensschule, mehr bildendes Erlebnis denn erlebnisreiche Bildung. «Chunnsch zum Tschanz?», das war im Dorf eine rhetorische Frage, eine, mit der gleichzeitig Vorfreude und Aufregung verbunden war. «Bisch o bim Tschanz gsy?», damit brachte man sich und den Gesprächspartner auf den gleichen Nenner, im stillen Einvernehmen, in etwa gleich geprägt zu sein.
In seiner leicht hektischen Art, mit seiner glühenden Begeisterung packt Tschanz seine Schüler. Er vermittelt ihnen neben Stoff eine Wertschätzung für Umgebung und Mitwelt, die andere vielleicht erst später im Leben, im schlechteren Falle gar nicht mehr erfahren. Lehrpläne waren für ihn immer ein Richtwert, «aber ich habe Ziele mit meinen Schülern», hält er fest.
«Da», sagt er, und wieder zückt er zielsicher ein Heft, «ich will, dass die Haikus sitzen, sieben Silben im Mittelteil, versteisch?» Keine fünfzig Schritte neben dem Schulhaus, im dichten Englisbergwald, steckt Tschanz jeweils Orientierungsläufe aus.
Da verschmelzen bei ihm Sport, Naturkunde, Geschichte. «Was sind Lippen-, was sind Korbblütler? Wie klingt der Zaunkönig? Wie richtet man eine Karte aus?» Tschanz taucht ständig ab in seinen Stoff, eine Stunde Interview mit ihm ist wie zwei Tage Primarschule.
Springende Funken
Ausflüge mit Lehrer Tschanz sind legendär. Die Eltern können davon schon ihren Kindern erzählen, lange genug ist der Mann ja längst im Dorf. Landschulwochen und Skilager sind ausgeklügelte Erlebniswochen, jeder Tag ist bepackt mit hier vorbeischauen und da was mitnehmen.
Und wenn der Onkel eines Schülers auf einem Rheinschiff arbeitet, dann ist für Tschanz selbstverständlich, dass er auf der Basel-Reise mit der ganzen Klasse dort aufschlägt. «Der Funke muss springen, egal wie.»
Jetzt wird aus dem Lehrer Tschanz der Rentner Tschanz, die Drehzahl dürfte hoch bleiben. Mittlerweile wohnt er in Wabern, will Tango tanzen, mehr reisen – vom Dienstjubiläumsurlaub hat er keinen Tag genommen.
Für seinen Posten haben sich dreizehn Personen beworben. Beim Auswahlverfahren seiner Nachfolgerin war er dabei, ist zufrieden, kommt jetzt jemand Junges. «Mein Sohn ist 10 Jahre älter als sie», sagt er lachend. Und fegt weiter durch sein Lehrmittel, das Schulzimmer. Wehmut sieht anders aus.
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