«Die Experten sind verunsichert»
Der Technikhistoriker Patrick Kupper erklärt, was Fukushima von Tschernobyl unterscheidet. Und warum der Abschied von der Atomenergie wahrscheinlicher geworden ist.
Der Bundesrat hat die Bewilligungsverfahren für neue AKW unterbrochen. Manche feiern das schon als Auftakt zum Ausstieg. Was sagt der Historiker? Natürlich ist es für solche Schlüsse noch zu früh. Nach dem Schritt, den die Politik getan hat, kommt es jetzt auf die Unternehmen an – darauf, ob sie an ihren Planungen festhalten.Ihre Prognose? Es ist gar nichts anderes denkbar, als dass nun auch die Industrie die Möglichkeit eines Übungsabbruchs ernsthaft diskutiert. Für Projekte ohne politische Chancen steht viel zu viel auf dem Spiel – zu viel Geld, aber auch die ganze Ausrichtung der Unternehmen, die mit den Neubauprojekten für Jahrzehnte festgelegt werden müsste.Kurz nach dem Beben bereits sagte Rolf Büttiker, FDP-Ständerat und Verwaltungsrat des AKW Leibstadt: Wenn die Risiken doch grösser sein sollten als bisher angenommen, dann «müssen wir auf einen Neubau verzichten». Ist diese Stimme repräsentativ für die Branche? Ja, das meine ich, auch wenn sonst kein Branchenvertreter diese Frage so deutlich in der Öffentlichkeit gestellt hat. Die Planungen werden kaum wie aufgegleist weiterlaufen. Dafür hat der Glaube an die Beherrschbarkeit dieser Technologie viel zu sehr gelittenWoran sehen Sie das? An der Verunsicherung der Experten weltweit. Seit einer Woche gibt es über den Zustand der havarierten Reaktoren keine Aussage, die länger als fünf Stunden gültig ist. Das bedeutet nichts anderes als den totalen Kontrollverlust. Die Fachleute in Forschung, Politik und Industrie sind in ihren elementaren Gewissheiten getroffen.Den Satz hörte man schon 1986: Nach Tschernobyl schien klar, dass die Atomkraft keine Zukunft hat. Doch es kam anders: 2003 wollte die Schweiz das Moratorium für neue AKW nicht verlängern. Und letzten Monat sagte der Kanton Bern grundsätzlich Ja zu Mühleberg II. Aber nur knapp. Noch klarer hat dieser Entscheid gezeigt, dass die Lager ähnlich gross sind: je rund ein Drittel Befürworter, Gegner und Unentschlossene. So labil sind die politischen Verhältnisse seit Jahrzehnten.Der Blick nach Japan könnte sie zum Kippen bringen? Damit rechne ich. Fukushima dürfte eine massivere Zäsur werden als Tschernobyl – gerade für die Industrie. Von Tschernobyl konnte sie sich noch distanzieren: Es war die Sowjetunion, es war einer ihrer Reaktoren. In Fukushima dagegen geht es um dieselbe Technik wie in Westeuropa, um Siedewasserreaktoren amerikanischer Bauart. Zudem ist Japan ein technologisch führendes Land mit einer Sicherheitskultur, die bisher als vorbildlich galt.Ist der Abschied von einer Technologie nicht zwangsläufig unwahrscheinlicher, je länger sich eine Gesellschaft an sie gewöhnt hat? Nein, und dafür gibt es schon rein technische Gründe. Die Laufzeit von Atomkraftwerken ist nicht beliebig dehnbar: Man kann diese Maschinerien nicht vollständig revidieren, darum sind sie irgendwann abgenutzt und müssen ausrangiert werden. Dabei stellt sich jedes Mal die Frage nach der Opportunität dieser Technologie, und zwar unter den jeweils aktuellen Bedingungen.Aber es gibt auch Denkroutinen, die zu Sachzwängen werden können. Man kennt das von der AutoiIndustrie und ihrer Fixierung auf den Verbrennungsmotor. So etwas sehe ich hier nicht. Ausserhalb der Stromkonzerne ist die Atomkraft schon lange kein Feld mehr, in dem die grossen wissenschaftlichen und technologischen Investitionen getätigt werden; die Innovationspotenziale liegen anderswo. Nicht umsonst hat die Industrie schon heute Mühe, für den Betrieb der Atomkraftwerke genügend Fachleute zu finden.Aus Frankreich kommen jetzt ganz andere Töne als aus Deutschland oder der Schweiz: keine Spur von Verunsicherung. Das ist ein Spezialfall. Frankreich ist tatsächlich auf den atomaren Weg fixiert, den das Land eingeschlagen hat – mit dem ganzen Gewicht der Politik und der staatlichen Energiekonzerne. Darum diskutiert Frankreich ganz anders. Es kommt eben auf den gesellschaftlichen Kontext an, in dem ein Unfall verarbeitet wird. Ein schönes Beispiel dafür hat die Schweiz 1969 geliefert: mit der Havarie im unterirdischen Versuchs-AKW in Lucens in der Waadt. Korrodierte Brennelemente verursachten Kühlungsprobleme, die in einer Kernschmelze gipfelten; in der Öffentlichkeit sprach man von einer Katastrophe. Gemeint war allerdings die Wettbewerbsfähigkeit des Landes und seine technologische Potenz: In Lucens stand die schweizerische Eigenentwicklung eines Reaktortyps in Erprobung, und dieses Projekt war nun am Ende. Vor Ort waren die Folgen des Atomunfalls vergleichsweise harmlos, wäre er nur fünf Jahre später passiert, hätte er zu einer Diskussion über die Unfallrisiken der Atomkraft geführt.Es gab ja nicht nur Harrisburg und Tschernobyl: Die Geschichte der Atomenergie ist voller Zwischen- und Katastrophenfälle. Hat ihre Bewältigung die Atomkraft vielleicht sogar gestärkt und einen Ausstieg unwahrscheinlicher gemacht? «Unsere Gegner bringen uns bessere Lösungen», sagte Michael Kohn einmal, der grosse Lobbyist der Atomkraft in der Schweiz. Das sehe ich differenzierter. Einerseits sind die Werke zweifellos sicherer geworden, auch aufgrund des Drucks der Anti-AKW-Bewegung. Beznau und Mühleberg wurden noch während der Inbetriebnahme sicherheitstechnisch nachgerüstet. Weitere Massnahmen gab es nach Harrisburg und Tschernobyl, etwa Evakuierungsplanungen und die Abgabe von Jodtabletten in der Umgebung der Werke. Es gab also Lernprozesse in den letzten vier Jahrzehnten.