Die Frau mit dem grossen Kämpferherz
Emilie lieberherr Zur Erinnerung an die verstorbene Alt-Stadträtin drucken wir nochmals ein Porträt von 2008 ab, das zeigt, wie sie bis ins hohe Alter immer noch herumweibelte und sich herrlich aufregen konnte.
von markus hegglin «Machet doch, was er wänd!», flachst Emilie Lieberherr, als die Fotografin und der Schreibende den geeigneten Hintergrund für das Porträtfoto besprechen. Und macht dann gleich auf cool: «Everything is alright.» Das ist O-Ton Emilie – wie die Grand Old Lady der Zürcher Stadtpolitik respektvoll-liebevoll oft genannt wird. Mal ist sie direkt und laut, mal weltläufig und sanft. Mit dieser emotionalen Palette konnte sie sich in ihrer vielschichtigen Biografie behaupten: als erste Frau im Stadtrat. Als Vorsteherin des Sozialamts während 24 Jahren. Als einzige Frau im Ständerat. Als Weitgereiste. Weshalb sie regelmässig englische Brocken einwirft, wie «ich bin ein bisschen lazy geworden». Die 84-Jährige geniesst immer noch das Scheinwerferlicht, den Auftritt in der Öffentlichkeit, was sie natürlich nicht zugeben würde. Sie tut ihre Meinung in Interviews kund oder lässt sich in Fotogeschichten einbinden. Wie kürzlich von der «Schweizer Illustrierten», die sie zusammen mit Lys Assia, Hanny Fries und Stephanie Glaser im Café Felix ablichtete. Das ist ganz nach ihrem Geschmack; sie, die bereits 70 Jahre alt war, als sie aus dem Stadtrat zurücktrat, will überall die Botschaft verbreiten, dass die Alten noch lange nicht zum alten Eisen gehören, dass sie in der Gesellschaft eine höhere Wertschätzung verdienen, dass sie den Mut haben sollten, sich mehr einzubringen, dass Wörter wie «Greise» oder «Seniorenschwemme» unanständig sind. Sie lässt sich auch gerne als Referentin oder Podiumsteilnehmerin zur Sozial- oder Drogenpolitik landauf, landab einladen. Auch von SP-Sektionen. «Die wissen manchmal gar nicht, dass ihre Partei mich rausgeschmissen hat», sagt sie maliziös. Aufbruch und Abbruch Chic hat sich Emilie Lieberherr angezogen für den Besuch des «Tagblatts». Sie weiss, was sich gehört, wenn man eine öffentliche Rolle spielt. Ein Medienprofi eben. Schlank und rank weibelt sie in ihrem ehemaligen Bauernhaus herum. Es liegt mitten in Wil im Rafzerfeld. Ihre Mitbewohnerin ist ihre langjährige Freundin Minnie Rutishauser. 1970 haben sie das Haus als Landsitz gekauft; ihre Stadtwohnung hatten sie in Höngg. Lieberherr besitzt heute noch eine Wohnung an der Schipfe. Im Gespräch wirkt sie ruhiger als früher, mag auch nicht mehr so viel über Politik reden, erzählt aber immer noch gerne Anekdoten und Geschichten aus ihrem Leben. Von ihrer Jugend im Kanton Uri, ihrer hindernisreichen Ausbildung, weil sie eine Frau war, ihrem Amerika-Aufenthalt, wo sie in der Familie von Hollywood-Schauspieler Henry Fonda als Kindererzieherin wirkte. Soeben hat sie Peter Fonda in Zürich wieder getroffen, als er als Jury-Präsident des Filmfestivals hier weilte. 1970 wurde die Gewerbeschullehrerin, Konsumentenschützerin und Frauenrechtlerin zur ersten Stadträtin von Zürich gewählt. Bevor auf nationaler Ebene das Frauenstimmrecht überhaupt eingeführt war. Sie übernahm das frei gewordene Sozialamt. Sie hätte sich auch im Finanzamt gesehen, schliesslich hatte sie neben Sozial- und Erziehungswissenschaft auch Betriebswirtschaft studiert. Das Amt war aber schon vergeben. «Die 70er-Jahre waren eine schöne Zeit, es herrschte eine richtige Aufbruchstimmung», erinnert sie sich. In ihrem neuen Amt ging sie tatkräftig voran und schuf viele neue Angebote, vor allem für Frauen, Familien und Senioren. Dann wurde das Klima frostiger. Ab 1980 gabs statt Aufbruch Abbruch auf den Strassen. Als Verantwortliche für die Jugendpolitik wurde Lieberherr zur Zielscheibe der Bewegten, die sie auspfiffen und verspotteten. Was die Stadträtin ärgerte und ihrem Verständnis für die Anliegen abträglich war. Es gab einfach keine gemeinsame Sprache zwischen der damals 56- und den aufmüpfigen 20-Jährigen. «Sie hat sich damals wahnsinnig für die Jungen eingesetzt», meint zwar Freundin Minnie Rutishauser. Brenzlig wurde es trotzdem. So hatte sie eines Tages vor ihrem Haus in Wil zwei Plastiksäcke mit 50 Liter Benzin, Drähte und eine Batterie entdeckt. Weil alles feucht war, ist die Chose nicht explodiert. Im Würgegriff der Drogenszene. Hilflos musste Emilie Lieberherr auch zusehen, wie die Drögeler und Dealer am Platzspitz und Letten die Stadt in den Würgegriff nahmen. Mit konventioneller Sozial- und Drogenpolitik war da nichts mehr zu machen. Manche Politiker behaupten noch heute, Lieberherr habe die Auflösung der Drogenszene blockiert. Sie habe die Süchtigen für «armi Sieche» gehalten, die man nicht einfach vertreiben dürfe. Erst nach ihrem Rücktritt habe der Stadtrat den Mut gefunden, den Letten zu räumen. Lieberherr mag das nicht kommentieren, sie reicht den Schwarzen Peter weiter an Statthalter Bruno Graf. Dieser hatte über den Kopf des Stadtrates hinweg die Räumung des Platzspitzes angeordnet. Das habe dem Stadtrat keine Zeit gelassen, die nötigen Massnahmen zu treffen, enerviert sich die ehemalige Stadträtin noch heute. Sie hatte wohl recht – am Letten bildete sich schnell eine noch schlimmere Szene. Der lange Atem. Als Emilie Lieberherr 1994 zurücktrat, hatte sie das Sozialamt 24 Jahre lang geführt und den Sozialapparat mächtig ausgebaut, das «System Lieberherr» geschaffen, in dem alles auf die Vorsteherin ausgerichtet war. Für ihre Nachfolgerin Monika Stocker war das kein leichtes Erbe. Wäre es nicht sinnvoll gewesen, nach 12 Jahren das Amt zu wechseln, um nicht betriebsblind zu werden? Solche Fragen stellt sich Lieberherr nicht. Sie hat sich immer ihrer Wählerschaft und Klientel gegenüber verantwortlich gefühlt. «Die wären enttäuscht gewesen, wenn ich plötzlich weg gewesen wäre.» Sie war eine Macherin und Kämpferin. Selbstkritik hatte da wenig Platz. «Jeder macht mal einen Seich», sagt sie zwar. Aber das tönt eher kokett. Grundlegende Fehleinschätzungen bei der Bewältigung von Problemen findet sie keine. Sie passte nie in ein Schema, was ihre Unabhängigkeit betonte. Die Frauenrechtlerin der ersten Stunde, die sich einen Platz in der Männerwelt eroberte, hatte nicht viel gemein mit den 20 Jahre jüngeren Frauen, die den Geschlechterkampf anders definierten und sich kulturell von ihr unterschieden. Sie war auch keine typische SPlerin. Spät trat sie der Partei bei. Doch so wenig, wie sie es mit den jungen Revoluzzern konnte, die das Kommando in der Partei übernahmen, so wenig mag sie heute die sogenannten Cüpli-Sozialdemokraten. Als sie und ihr Kollege Jürg Kaufmann sich vor den Wahlen 1990 für den damaligen Stadtpräsidenten Thomas Wagner von der FDP und gegen den SP-Kandidaten Sepp Estermann aussprachen, kam es zum Bruch und Rausschmiss. Offenbar weht der Groll noch nach. Loben mag sie die heutige Linksregierung auf jeden Fall nicht. «Sind Sie zufrieden, wie die Stadt sich heute präsentiert?» – «Nein!» (langes Schweigen) – «Was meinen Sie genau mit Nein?» – «Es gibt Leute, welche die Probleme nicht sehen.» – «Was denn für Probleme?» – «Die machen einfach die Augen zu, bei den sozialen Problemen, bei der Drogenproblematik.» – «Können Sie das etwas konkreter ausführen?» – «Das würde zu weit führen.» – «Sagen Sie dem jetzigen Stadtpräsidenten auch mal die Meinung, wenn Sie ihn treffen?» – «Nein (langes Schweigen); was halten denn Sie vom ihm?» – «Nun ja, er ist sicher ein guter Verkäufer der Stadt.» – «Eben, und das genügt? Sozialdemokraten sind heute nicht mehr sozialdemokratisch.» Diese würden wahrscheinlich schmunzeln, wenn sie sie immer noch von armen Alten und Arbeitern im Übergwändli erzählen hörten. Das verrät die Sichtweise einer traditionellen Linken, einer Frau, die von ihren Vater geprägt wurde, der im Eisenbahnerdorf Erstfeld gewerkschaftlich aktiv war. Ob sie geliebt, respektiert oder gefürchtet war – Emilie Lieberherr stand immer für ihre Sache ein, engagiert, temperamentvoll, ohne Furcht und mit viel Tadel. Eigentlich braucht es mehr Emilies in unserem Land. ?
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