Die Schattenfrau
Nach dem neblig-kalten Winter freuen sich in diesen Tagen die meisten Leute auf den Frühling. Bei Andrea Ryter ist es gerade umgekehrt: Für sie könnte es ewig Winter bleiben. Denn ihr Körper verträgt die Sonne nicht.
Eben ist Andrea Ryter von den Skiferien heimgekehrt. «Es tat gut, wieder einmal mit den Kindern zu sein und ein bisschen an ihrem Leben teilzuhaben», erzählt die 38-jährige Mutter von drei Buben. Mit einem Lächeln im Gesicht streicht sie über die Bilder auf ihrem Smartphone.
Sie zeigen die aufgeweckten Kinder im Schnee und daneben eine vermummte, ein wenig verlorene Gestalt – fast wie eine vollverschleierte Frau. «Nur derart verpackt kann ich wenigstens ein paar Minuten draussen sein», sagt Andrea Ryter zu Hause im solothurnischen Kestenholz.
Als Simulantin hingestellt
Der Grund für ihre merkwürdige Montur: Andrea Ryter leidet an erythropoetische Protoporphyrie, kurz EPPgenannt. Das ist eine seltene, genetisch bedingte Stoffwechselkrankheit, die zu einer extremen Lichtempfindlichkeit führt. Betroffene können sich einzig dadurch schützen, dass sie ihre Körperoberfläche mit Kleidern verhüllen oder sich in geschlossenen Räumen aufhalten.
Missachten sie diese Vorsichtsmassnahmen, kommt es zu starken Schmerzen und Verbrennungen – ähnlich wie bei einem Sonnenbrand, nur noch heftiger. Bei einzelnen Patienten kann auch die Leber Schaden nehmen, weil bestimmte Stoffwechselprodukte eingelagert statt abgebaut werden. Damit es nicht so weit kommt, hat sich Andrea Ryter ein ganzes Arsenal von Spezialutensilien mit Lichtschutz angeschafft: Jacke, Handschuhe, Hut, Schirm und Sonnenbrillen.
In den Italien-Ferien mit der Familie habe sie jeweils geschrien vor Schmerzen und immer wieder Hautverbrennungen erlitten.
Heute weiss sie wenigstens, wie sie sich schützen muss. Lange wusste Andrea Ryter gar nicht, was sie hat. Besonders schlimm war es als Kind. In den Italien-Ferien mit der Familie habe sie jeweils geschrien vor Schmerzen und immer wieder Hautverbrennungen erlitten. Die Eltern waren ratlos, und auch der Hausarzt wusste nicht, was dem Kind fehlt. Oft wurde sie als Simulantin hingestellt.
Weil es ihm besser ging, wenn es im Haus blieb, konnte das Mädchen kaum mit seinen Schulgspändli spielen. Andrea wurde zur Aussenseiterin. «Ich musste auf vieles verzichten und war oft einsam», sinniert sie.
Diagnose erst mit 16 Jahren
Erst auf der Dermatologie des Berner Inselspitals werden die Hautspezialisten fündig: Mit einem Gentest stellen sie die EPP-Krankheit fest. «Für mich war das eine Befreiung – endlich eine Diagnose», sagt Andrea Ryter, die damals bereits 16-jährig war. Darauf werden ihr Beta-Carotin-Kapseln verschrieben. Die bringen aber keine Besserung.
Nun können auch die Berner Hautärzte nichts mehr tun für ihre Patientin. Es scheint, als müsse sich die junge Frau, deren Leben eben erst richtig begonnen hat, mit der unheilbaren Krankheit abfinden. Sie wählt einen Beruf, den sie drinnen ausüben kann (Drogistin), heiratet einen verständnisvollen Mann und bekommt die Kinder.
Doch die Krankheit ist immer auch mit dabei. Besonders schlimm meldet sie sich vor drei Jahren wieder. Andrea Ryter ist mit ihren Kindern zu lange im Freien – und muss dafür mit starken Schmerzen büssen. «Es fühlte sich an, als hätte ich ein Bügeleisen auf der Haut», berichtet sie und sagt sich: So kann es nicht weitergehen!
«Die Betroffenen sind in ihrer Lebensqualität massiv eingeschränkt.»
In ihrer Verzweiflung beginnt sie im Internet zu recherchieren – und stösst dabei auf Elisabeth Minder (68): Die emeritierte Professorin hat am Zürcher Stadtspital Triemli eine Sprechstunde für EPP-Patienten ins Leben gerufen und gilt als Koryphäe für die seltene Stoffwechselstörung. «Betroffene sind in ihrer Lebensqualität massiv eingeschränkt», weiss die Fachärztin aus jahrzehntelanger Erfahrung.
Dank der engagierten Medizinerin bekommt Andrea Ryter die Möglichkeit, im Rahmen einer Studie ein neu entwickeltes Medikament zu testen: ein im Körper implantiertes Stäbchen, das wie das Bräunungshormon wirkt und gleichzeitig Entzündungen eindämmt. «Es ist das einzige wirksame Medikament», sagt Elisabeth Minder. «Es unterdrückt die Symptome oder reduziert sie zumindest deutlich.»
Kurzes Glück
Das kann Andrea Ryter bestätigen. Das Implantat erlaubt ihr ein beinahe normales Leben: in die Badi gehen, Tennis spielen, ihre Söhne an Sportveranstaltungen begleiten. «Endlich waren wir eine ganz normale Familie.»
Doch das Glück währt nicht lange. Nach einem Jahr verweigert die Krankenkasse die erneute Kostengutsprache für das Medikament (dessen Preis deutlich gestiegen ist, seitdem es nicht mehr im Rahmen der Studie verschrieben werden kann). Begründung: Es sei nicht wirtschaftlich und die Krankheit nicht lebensbedrohlich. Zudem figuriere das in der EU zugelassene Medikament nicht auf der Schweizer Spezialitätenliste.
Ein Tiefschlag für die ganze Familie. «Das Medikament selbst zu bezahlen, übersteigt unsere finanziellen Möglichkeiten», sagt Andrea Ryter.
Die Hoffnung bleibt
Die Hoffnung, dass ihre Kasse einlenkt, hat sie aber nicht aufgegeben. Von den rund sechzig Patienten hierzulande erhält mehr als die Hälfte das wirksame Medikament vergütet. Deshalb macht sich die Schweizerische Gesellschaft für Porphyrie, in der die EPP-Betroffenen organisiert sind, beim Bundesamt für Gesundheit mit einer Petition stark für «Behandlungsgerechtigkeit».
«Ich lasse mir doch nicht alles einfach wieder wegnehmen.»
«Ich lasse mir doch nicht alles einfach wieder wegnehmen», sagt Andrea Ryter. Und sie träumt schon von dem Tag, an dem sie ihre Buben auf dem Fussballplatz wieder anfeuern kann.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch