Diplomatische Krise wegen Russen-Spionage
Der russische Botschafter wurde bereits zum dritten Mal einberufen. Laut einer Geheimanalyse ist jeder vierte russische Diplomat in der Schweiz ein Agent.

Die russische Spionage in der Schweiz ist sehr penetrant geworden. Die vom Tamedia-Recherchedesk aufgedeckten Geheimdienstoperationen – gegen das Labor Spiez und die Anti-Doping-Agentur in Lausanne – haben jetzt auch ein diplomatisches Nachspiel.
Wie sich heute Sonntag herausstellte, wurde der russische Botschafter dieses Jahr nicht nur einmal, sondern bereits zum dritten Mal vom Eidgenössichen Departemen für auswärtige Angelegenheiten (EDA) einberufen, wie dessen Sprecher auf Anfrage sagt. Einmal wurde er im Frühling im Zusammenhang mit dem Labor Spiez einberufen, das auch Proben im Skripal-Fall analysierte. Erst vor ein bis zwei Wochen war der russische Botschafter erneut beim EDA; offenbar hatten sich die Hinweise verdichtet, dass die russische Spionagetätigkeit in der Schweiz wieder sehr aktiv war. Wie das «SRF» am Sonntag berichtet, hat sich nach der Bundesanwaltschaft nun auch die Geschäftsprüfungsdelegation von National- und Ständerat eingeschaltet.
In seinem Bericht zur aktuellen Bedrohungslage schlug der Bundesrat bereits im März Alarm – allerdings noch, ohne ein Land zu nennen. Die Stelle liest sich wie eine Warnung: «So besteht bei einem Staat der begründete Verdacht, dass mehr als ein Viertel des diplomatischen Personals nachrichtendienstlich tätig ist.»
Ein halbes Jahr wurde nun gerätselt, wer gemeint war. Heisse Kandidaten gibt es genug: die Türkei, China, Nordkorea, die USA und Russland. Auf sie alle könnte die bundesrätliche Erkenntnis zutreffen, wonach eine «erhebliche Zahl von Nachrichtendienstoffizieren unter diplomatischer Tarnung» operiert. Aber gleich mehr als ein Viertel der Belegschaft in der Schweiz?

Nun zeigen Recherchen: Der Bundesrat warnt vor dem von Ex-KGB-Offizier Wladimir Putin beherrschten Land. Die Russische Föderation spioniert seit ihrer Gründung vor 27 Jahren in der Eidgenossenschaft, doch geschah dies noch nie so ungehemmt wie zuletzt. Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) setzte sich deshalb selber ganz offen einen «Schwerpunkt Russland». Im Geheimen klärte er dabei auch die Anzahl russischer Agenten mit Diplomatenpass ab. Das Resultat: Es gibt in der Schweiz Dutzende offizielle russische Vertreter, die Teil- und Vollzeit-Spione sind oder waren. Die einen fielen schon an früheren Stationen in ihrer Diplomatenlaufbahn durch nachrichtendienstliche Aktivität auf, andere erst hier.
Nur drei Staatsvertreter sind offiziell Nachrichtendienstler
Russland hat zurzeit für die Berner Botschaft und die Genfer, Lausanner und Zürcher Konsulate 83 Abgesandte beim schweizerischen Aussendepartement (EDA) angemeldet. Hinzu kommt nicht akkreditiertes Personal.
Für die Bundesstadt sind 67 russische Staatsvertreter namentlich ausgewiesen: 35 Diplomaten, 2 Diplomatinnen, 30 ebenfalls akkreditierte Gattinnen und Partnerinnen. Nur drei von ihnen erfüllen offiziell nachrichtendienstliche Aufgaben: der Militärattaché Oberst Alexander Provotorov und seine beiden Stellvertreter.
Weit mehr spioniert wird traditionell – und von allen Mächten – in Genf. Dort sind denn auch viel mehr Kreml-Abgesandte stationiert als in Bern. Die Ständige Mission Russlands bei der UNO in der Rhonestadt belegt einen stattlichen Gebäudekomplex und ist deutlich grösser als die Berner Gesandtschaft, die alleine schon mehrere Herrschaftshäuser und ein ausgedehntes Grundstück mit Aare-Anstoss umfasst.
Schweiz-Aufenthalte bis rund einen Monat vor der Skripal-Attacke
Für besonders heikle Operationen, wie sie das Tamedia-Recherchedesk in den vergangenen Tagen enthüllt hat, reist Verstärkung an. Die SonntagsZeitung berichtete vor einer Woche darüber, dass sich die zwei mutmasslichen Agenten des russischen Militärgeheimdiensts GRU vor dem Nervengift-Anschlag auf den russischen Doppelagenten Sergei Skripal in Genf aufhielten. Präsident Putin forderte die Verdächtigen danach auf, sich in den Medien zu den Vorwürfen zu äussern, was prompt geschah. Zwei Männer behaupteten in einem TV-Interview, sie seien als Touristen wohl zufällig an Skripals Haus im südenglischen Salisbury vorbeigegangen. In Genf seien sie tatsächlich gewesen, «zum Relaxen» und «hauptsächlich für Business», dem Einkauf von Sportlernahrung. Die Anzahl ihrer Reisen nach Europa sei aber übertrieben dargestellt worden. Der SonntagsZeitung liegen Angaben zu Flügen vor, die wiederholte und längere Schweiz-Aufenthalte bis rund einen Monat vor der Skripal-Attacke mit vier Verletzten und einem Todesopfer nahe legen.
Darüber hinaus kam es in der Schweiz zu vielen russischen Spionageoperationen. Ziele waren die jeweiligen Aufklärer in international brisanten Fällen, in denen Russland eine Schlüsselrolle zukommt: einerseits das Labor Spiez, das auch Spuren im Skripal-Fall analysierte, andererseits die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada. An ihrem Europa-Sitz in Lausanne fanden vertrauliche Sitzungen zum russischen Staatsdoping statt.
Mit Hightech-Geräten Labor Spiez ausspionieren
Die Spiezer Atom-, Bio- und Chemiewaffen-Experten und die Dopingjäger gerieten – nach Erkenntnissen schweizerischer Sicherheitsbehörden – ins Visier der zum Teil gleichen russischen Agenten. Die Truppe wollte sie vor Ort mit Hightech-Geräten ausspionieren. Zwei involvierte Russen sind im Frühjahr in Den Haag aufgeflogen. Sie wurden festgenommen und später nach Moskau ausgeschafft. Die Bundesanwaltschaft in Bern hat ein Spionage-Strafverfahren eröffnet.
Nachdem das Tamedia-Recherchedesk über die gestoppte Operation gegen das bundeseigene Labor im Berner Oberland berichtet hatte, berief das EDA den russischen Botschafter in Bern ein. Es verlangt von Russland, «sofort seine Spionageaktivitäten auf Schweizer Territorium zu stoppen». Die russische Botschaft in Bern hatte die Berichte als «absurd» bezeichnet und «als ein neuer Versuch, die russlandfeindliche Stimmung anzuheizen». Am Sonntag reagierten die Vertreter der russischen Regierung erneut auf die jüngsten Enthüllungen. Die Vorwürfe seien «haltlos» und «unbewiesen», schrieb die russische Botschaft in Bern in einer Stellungnahme auf Facebook. Den Lesern werde «eine voreingenommene Sicht auf die in der Schweiz arbeitenden Russen» aufgezwängt.
Politiker fordern Stärkung der Cyberabwehr
Die lebhafte russische Spionagetätigkeit wird auch im Bundeshaus zum Thema. Gleich drei Kommissionen wollen sich über die Vorgänge informieren lassen. «Dass Russland in der Schweiz spioniert, überrascht mich nicht. Aber dass gleich über ein Viertel des diplomatischen Personals nachrichtendienstlich tätig sein soll, das überrascht mich doch», sagt SVP-Nationalrat Werner Salzmann, Präsident der Sicherheitspolitischen Kommision.
Nach Meinung von Elisabeth Schneider-Schneiter, Präsidentin der Aussenpolitischen Kommission genügt es nicht, den Botschafter einzubestellen. Die Schweiz könne das Problem aber nicht im Alleingang lösen. «Ich erwarte, dass der Bundesrat diese Vorfälle in internationalen Gremien wie der OECD zum Thema macht.» Wie Claude Janiak sagt, Präsident der Geschäftsprüfungsdelegation, ist nun vor allem die Diplomatie gefragt. Im konkreten Fall könne das Parlament nicht viel mehr tun, als seinen Unmut zu bekunden. Grundsätzlich sind er wie Salzmann der Meinung, dass der Bund die Cyber-Sicherheit stärken muss. Janiak sieht durch die aktuellen Vorfälle seine Aussage in seinem Wahlkampf vor drei Jahren bestätigt: Der Bund müsse in IT-Spezialisten und weniger in konventionelle Waffen investieren.
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