Waffengewalt in den USAEine App gegen tödliche Schüsse
Zwei ehemalige Schulfreunde aus Philadelphia kämpfen auf unkonventionelle Weise gegen Waffengewalt in ihrer Heimatstadt. Ihre Idee: Hilfe holen, bevor ein Konflikt eskaliert.

Kann eine Smartphone-App tödliche Auseinandersetzungen mit Waffen verhindern? Die zwei ehemaligen Schulfreunde Steven Pickens und Mazzie Casher aus Philadelphia glauben daran. Ihre App «Philly Truce» ist seit diesem Frühling in Betrieb. Über einen Hilfeknopf können Nutzer anonym Informationen über Konflikte teilen, die in Waffengewalt ausarten könnten. Geschulte Mediatoren helfen dann dabei, die Situation zu deeskalieren.
In diesem Jahr sind in den USA bereits über 14’500 Menschen durch Schusswaffen ums Leben gekommen. 2021 dürfte damit zu einem der tödlichsten Jahre seit Jahrzehnten werden. Die Corona-Pandemie hat die Situation verschlimmert. Laut einer Kriminalstatistik des FBI nahmen die Mordfälle 2020 im Vergleich mit dem Vorjahr um 30 Prozent zu. Das ist der steilste Anstieg, der je gemessen wurde. In Philadelphia sind die Zahlen noch dramatischer. Die Anzahl an Mordopfern stieg um 40 Prozent. Dieses Jahr wurden in der Stadt bereits 432 Menschen umgebracht, noch einmal 15 Prozent mehr als im Vorjahr. 375 der Opfer wurden erschossen, mehr als 1400 Menschen wurden bei Schiessereien verwundet.
Die Statistik zeigt auch: Junge schwarze Männer sind sowohl unter den Tätern als auch unter den Opfern die mit Abstand grösste Gruppe. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie durch Waffen sterben, ist 20-mal höher als bei ihren weissen Altersgenossen.
Ein Budget von 5000 US-Dollar
Auch Pickens und Casher sind im Glauben aufgewachsen, dass Waffengewalt zum Alltag gehört. «Wir hatten uns damit abgefunden, dass es in der Stadt nun mal so ist», sagt der 45-jährige Hip-Hop-Künstler Casher im US-Magazin «Wired». Das änderte sich, als die Polizeigewalt gegen Schwarze nach der Ermordung von George Floyd im Sommer 2020 weltweit viel Aufmerksamkeit bekam und Proteste hervorrief. «Die alltäglichen Schiessereien in den einkommensschwachen Gegenden in unserer Nachbarschaft dagegen werden nicht thematisiert», sagt Pickens.
In Teilen von Philadelphia seien die Menschen Gefangene in ihren eigenen Häusern. «Mancherorts ist es schon gefährlich, nur auf der Treppe vor dem eigenen Haus zu sitzen», so der 46-jährige Rettungsassistent. «Darum wollten wir etwas entwickeln, mit dem wir uns als Gemeinschaft selber helfen können.»
Weder Pickens noch Casher hatten einen technischen Hintergrund. Keiner von ihnen hatte zuvor eine App entwickelt. Finanziert haben sie ihre Erfindung mit einem Budget von 5000 US-Dollar.
Alternative zu einem Anruf bei der Polizei
Meldet ein Nutzer einen möglichen Konflikt, nimmt ein Mediator Kontakt auf. Dieser hört zu, interveniert, wenn nötig, oder vermittelt weitere Hilfsangebote. Viele der Mediatoren sind freiwillige Helfer, die in einer Schulung lernen, wie sie Streitigkeiten effektiv schlichten können. Auch erfahrene Mediatoren, die für offizielle Anti-Gewalt-Organisationen der Stadt arbeiten, gehören zum Netzwerk.
Die App ist laut den Erfindern eine Alternative zur Kontaktaufnahme mit der Polizei, da das die Gewalt in manchen Fällen verstärken könne. «Es ist eine einfache Möglichkeit, einen Prozess in Gang zu bringen», so Casher. «Wir müssen um Hilfe bitten, und wir müssen die Hilfe sein.»
Viele Streitigkeiten nehmen ihren Anfang auf Social Media. «Die Kids streiten sich bei Twitter oder Instagram. Früher endete das in einer Schlägerei. Heute wird geschossen», sagt ein Polizist in einer Reportage dieser Zeitung aus Philadelphia. Teil der Gewaltspirale ist, dass sich die Menschen vermehrt bewaffnen. 2020 wurden laut dem US-Verband der Waffenhersteller (NSSF) in den USA so viele Schusswaffen wie noch nie verkauft – 60 Prozent mehr als im Vorjahr. Auffällig an den Zahlen ist: Mehr als ein Viertel der Käufer waren Erstkunden, also Menschen, die bisher keine Waffe besassen.
Seit dem Start von «Philly Truce» haben Hunderte von Menschen aus Philadelphia entweder Hilfe erhalten oder sich engagiert, um die Gewalt zu stoppen. Pickens und Casher hoffen nun, dass ihr Programm auch in anderen Städten wie St. Louis, Chicago und Detroit eingeführt wird: «Wir sehen Truce als eine nationale Bewegung.»
Irena Jurinak ist seit 2015 Newsredaktorin und Online-Blattmacherin bei Tamedia. Sie hat in Zürich Politologie, Germanistik und Publizistik studiert.
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