Ersatzschauplatz für nationale Empörung
Es sei wie ein Ritual, dass die Schweizer Flüchtlingspolitik von 1939 bis 1945 immer wieder Aufregung auslöse, sagt Historiker Sacha Zala. Jüngster Anlass: Eine Dissertation korrigiert die Zahl abgewiesener jüdischer Flüchtlinge nach unten.

Geschichtliche Dissertationen geben meist wenig zu reden. Jene der Genfer Historikerin Ruth Fivaz-Silbermann (70) aber macht da eine Ausnahme. Obwohl ausser den Gutachtern kaum jemand das noch unveröffentlichte, 1000-seitige Riesenwerk gelesen hat, sorgt es schon für Aufregung.
Denn Fivaz wagt sich an das immer noch heikle Thema jüdischer Flüchtlinge, die sich im Zweiten Weltkrieg in die Schweiz zu retten versuchten.
Sie wartet dabei mit überraschenden Zahlen auf: Nicht rund 24 000, sondern «nur» 4000 Juden seien an der Schweizer Grenze abgewiesen worden. Die Zahl abgelehnter jüdischer Visa aber liege bei 16 000 statt 14 500.
Rothmunds Rehabilitation
Die erste Zahl war für die rechtsnationale «Weltwoche» von Verleger und SVP-Vordenker Roger Köppel Anfang Juni ein gefundenes Fressen. Der Grundton im Artikel des Magazins über Ruth Fivaz' Arbeit: Die Zahl abgewiesener jüdischer Flüchtlinge werde massiv übertrieben, es seien weit mehr in die Schweiz gekommen, als es der Bergier-Bericht der unabhängigen Historikerkommission behaupte. Das moralisierende Schweiz-Bild der mehrheitlich links orientierten Historiker müsse endlich korrigiert werden.
Historikerin Fivaz scheint die Sicht der «Weltwoche» noch zu unterstützen, indem sie den langjährigen Fremdenpolizeichef Heinrich Rothmund rehabilitiert. Im Bergier-Bericht wird er als antisemitischer Manager der repressiven Flüchtlingspolitik beschrieben. In Fivaz' Augen aber hat er die harte bundesrätliche Flüchtlingspolitik ab 1942 abgemildert.
Muss man die Geschichte der Schweizer Flüchtlingspolitik nun umschreiben? Die Frage ist Sacha Zala schon öfter gestellt worden und entlockt ihm in seinem Berner Büro ein Seufzen. Er ist Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis) und Autor des Kapitels über die zwei Weltkriege in der 2014 erschienenen «Geschichte der Schweiz».

«Für Fachhistoriker ist das Flüchtlingsthema nicht mehr umstritten. Es besteht auch ein Grundkonsens, dass sich die Zahl abgewiesener Flüchtlinge wegen der unvollständigen Aktenlage nie genau rekonstruieren lässt», sagt Zala. In der öffentlichen Wahrnehmung aber sorge das Thema weiterhin für Emotionen.
Heikles Terrain ist die Flüchtlingspolitik 1939 bis 1945, weil ihr der Vorwurf entspringt, die Schweizer Organe hätten moralisch versagt und ganz unneutral dem nationalsozialistischen Deutschland zugedient. Neue Zahlen stützen oder widerlegen diese Wertung. Historiker Zala aber warnt davor, einer solchen «Zahlenmystik» zu erliegen.
«Der Zahlenstreit ändert nichts an einem zentralen Punkt: dass der Bundesrat im Krieg die Religion nicht als Aufnahmegrund akzeptierte, Juden also nicht als Flüchtlinge anerkannte», verdeutlicht Zala. Überdies verschleiere der Zahlenstreit die Frage, wie viele Juden sich abschrecken liessen und gar nicht erst versuchten, in die Schweiz zu flüchten.
Kritik und Lob für Ruth Fivaz
Ruth Fivaz' Werk und dessen Lancierung durch die «Weltwoche» hat Gegenreaktionen ausgelöst. Schweizer Historiker werfen ihr unsaubere Methoden vor: Fivaz extrapoliere ihre an der Schweizer Westgrenze nach Frankreich erhobenen Zahlen auf unzulässige Weise auf die Grenze zu Deutschland und Italien. Auch die Aufhellung der Rolle Heinrich Rothmunds sei so nicht belegbar.
Generell erhält das Werk aber auch Lob. Volle 20 Jahre lang hat Fivaz, die aus einer 1939 in Genf aufgenommenen jüdischen Familie stammt, daran gearbeitet. Sie rekonstruiert minutiös die Einzelschicksale fast aller jüdischen Flüchtlinge, die im Krieg von Frankreich her die Schweiz erreichten. Sie berichtet von deren Herkunft, rekonstruiert ihre von Schleppern gebahnten Wege und ihr Schicksal nach einer Wegweisung oder Aufnahme.
Dieses grosse Panorama zeige auch, wie unterschiedlich je nach Grenzabschnitt die Bundes- sowie Kantonsorgane und Anwohner mit den Flüchtlingen verfuhren, sagt Zala. So werde auch nachvollziehbar, dass der direkte Zugriff von Fremdenpolizeichef Heinrich Rothmund oft eingeschränkt war. Würde auch er Rothmund verteidigen? «Nein, aber es ist offensichtlich, dass Rothmund zu einem Bauernopfer und stellvertretenden Bösewicht stilisiert worden ist, der von der Gesamtverantwortung ablenken sollte», sagt Zala.
Bändigung der Geschichte
Die politische Kontroverse um Ruth Fivaz' Werk ordnet Sacha Zala in ein Muster ein, das sich beim Schweizer Umgang mit heiklen Enthüllungen aus der Kriegszeit wiederholt: Im Ausland werden für die Schweiz unangenehme Dinge aufgedeckt – wie in den 1990er-Jahren die nachrichtenlosen Vermögen auf Schweizer Banken. Das löst einen Skandal aus, auf den die offizielle Schweiz dann reagiert, indem sie bei einem gestandenen Historiker einen Bericht in Auftrag gibt.
Nach diesem Prinzip verfasste der Basler Jurist Carl Ludwig 1957 einen Bericht über die Flüchtlinge. Historiker Edgar Bonjour schrieb in den 1960er-Jahren über die Schweizer Aussenpolitik und Neutralität, und die Crew um Jean-François Bergier legte 2002 ihren Bericht über die nachrichtenlosen Vermögen vor. Bis die oft umfang- reichen Werke beendet und publiziert waren, sei die Empörung meist wieder abgeflaut, sagt Zala. So sei die Geschichte von den Behörden «gebändigt» worden.
Skandal um «J»-Stempel
Den Urskandal in der Flüchtlingsfrage löste 1954 laut Zala eine Fussnote in einer Edition von Naziakten aus, die die alliierten Kriegssieger 1949 veröffentlichten. Dort fassten die Herausgeber eine diplomatische Korrespondenz aus Bern vom September 1938 zusammen. Demnach bestand die Idee, einen Visumszwang für deutsche Juden einzuführen, indem man deren Pässe entsprechend kennzeichne.
Ob der darauf eingeführte, berüchtigte «J»-Stempel eine Idee der Schweizer oder der Nazi-Behörden war, ist bis heute unklar. Dennoch machte der «Beobachter» 1954 Heinrich Rothmund dafür verantwortlich, als er diesem «das schreckliche Verdienst» zuschrieb, den Nazis «den Weg zur amtlichen Kennzeichnung der Juden geebnet» zu haben.
Seither sorgt das Flüchtlingsdossier zuverlässig für Kontroversen. 1999 publizierte die Bergier-Historikerkommission dazu einen Zwischenbericht. Anders als der bürgerliche Historiker Edgar Bonjour, der 1970 flammend das «Versagen und eine Mitschuld der ganzen Kriegsgeneration» anprangerte, relativierte die Bergier-Crew die Flüchtlingspolitik vorsichtig. Sie erwähnte auch mutigen Einsatz zum Wohl der Flüchtlinge. Dennoch ärgerte sich die nationalkonservative SVP.
Das verwundert Sacha Zala umso mehr, als die Flüchtlingspolitik im Bergier-Bericht bloss ein Nebenthema ohne neue Forschungsergebnisse war. «Es gibt im Bericht spektakuläre Aufarbeitungen von vorher ganz unbekannten, brisanten Themen, die überhaupt keine Reaktionen auslösten», sagt er.
Dazu gehören etwa die Zwangsarbeiter, die für Schweizer Firmen in Deutschland schufteten. Das Kapitel über den Eisenbahntransit müsste konservativen Landesverteidigern gar besonders gefallen, findet Zala: Das böse Gerücht, dass Züge mit KZ-Häftlingen durch die Schweiz rollen durften, wird dort nämlich widerlegt.
«Nicht für Moral zuständig»
«Das Flüchtlingsthema ist ein Ersatzschauplatz und ein Instrument, mit dem sich das Selbstverständnis der Schweiz und der nationale Empörungshaushalt managen lassen», erklärt Sacha Zala die neuerliche Aufregung. Auch die äussere Bedrohung durch die aktuelle europäische Flüchtlingskrise spiele mit hinein. Damals wie heute lasse sich am Flüchtlingsthema erörtern, wie sich die Schweiz in Europa und der Welt verorten wolle.
Die wissenschaftlichen Fragen der Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg seien geklärt, die moralischen Fragen aber offenbar nicht, bilanziert Sacha Zala und betont: «Für moralische Fragen sind aber nicht wir Historiker zuständig.»
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch