Grusel- und Gewaltfilme in der ForschungEs graut uns, doch wir schauen hin
Warum verbringen Menschen ihre Freizeit mit schaurigen Filmen über Serienmörder und Killer-Kartelle – und wie wirkt sich das auf die Psyche aus? Überraschende Einsichten aus der Forschung.

Schon kurz nach Veröffentlichung vor ein paar Monaten wurde die fiktionale Serie «Dahmer», die die echte Geschichte des Serienmörders Jeffery Dahmer erzählt, ein absoluter Hit: Millionen von Menschen, auch in Deutschland, streamten die Netflix-Serie. Schon jetzt gehört «Dahmer» zu den erfolgreichsten Netflix-Produktionen überhaupt. Das wirft die Frage auf: Wieso findet eine Show über ein so grausames Sujet wie Serienmord überhaupt ein Millionenpublikum?
Geht es nach dem Psychologen Coltan Scrivner, liegt das an etwas, das er und andere Forschende «morbide Neugier» nennen. Die gleichnamige Theorie postuliert, dass Märchen, Monster oder Morde gerade deswegen fesseln, weil sie kognitive Systeme ansprechen, die in der Menschheitsgeschichte das Überleben begünstigt haben. Im Kern besteht das Konzept aus drei Komponenten, wie Scrivner ausführt: «Morbide Neugier hat sich aus der Not heraus entwickelt, Bedrohungen zu entdecken und mit diesen umzugehen (Bedrohungsmanagement); sie wird angetrieben durch die Motivation, Informationen zu sammeln (Neugier), und zum anderen durch die Fähigkeit, potenzielle Bedrohungen mental zu simulieren (Imagination).»
Vielleicht hat die Angstlust eine Überlebensfunktion.
Laut Scrivner, der an der Universität Aarhus in Dänemark forscht, lassen sich Anzeichen für morbide Neugier schon im Tierreich ausmachen. Zum Beispiel nähern sich Gazellen unter bestimmten Umständen Löwen oder Geparden, statt vor ihnen zu fliehen. Obwohl die Annäherung risikoreich ist, profitieren die Tiere auch davon, wie die Zoologin Clare D. FitzGibbon im Fachjournal Behavioral Ecology and Sociobiology dokumentiert hat. Gazellen lernen auf diese Weise etwa wertvolle Informationen über ihre Fressfeinde – oder können diese durch ihren Wagemut gar abschrecken.
Während Gazellen und andere Tiere Gefahr laufen, beim «Kennenlernen» ihrer Beutegreifer erlegt zu werden, hat sich bei Menschen die zusätzliche Fähigkeit entwickelt, Bedrohungsszenarien rein mental durchzuspielen. «Diese dramatische Verschiebung weg von den Kosten hin zu den Vorteilen, die sich beim Erwerb von bedrohungsrelevanten Informationen ergeben, hat zur Sättigung der Popkultur mit bedrohungsrelevanten Themen geführt», ist Scrivner überzeugt. Aber gibt es überhaupt Belege für diese sogenannte Simulationshypothese?

Tatsächlich liegen diverse Daten vor, die damit zumindest kompatibel sind. Zum einen ist wohl unbestreitbar, dass die deutsche Medienlandschaft mit unzähligen True-Crime-Podcasts, Horrorfilmen, gewalthaltigen Videospielen oder Kriminalromanen ein überaus reichhaltiges Angebot an im weiteren Sinne «bedrohungsrelevanten Themen» bereithält. Zum anderen ergeben sich aus der Simulationshypothese konkret testbare Vorhersagen. Das hat zum Beispiel ein Team um Olivier Morin vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena 2019 im Fachblatt Humanities and Social Sciences Communications dargelegt.
Morin argumentiert dort, dass im Sinne der Hypothese Bedrohungen in fiktionalen Welten auftreten müssten, die selten und extrem gefährlich sind. Häufige, minder schwere oder eher vermeidbare Gefahren sollten dagegen weniger repräsentiert sein, da sich der Umgang mit diesen Bedrohungen tendenziell bereits in der Realität trainieren lässt. Auch Risiken, an denen Menschen ohnehin nichts oder wenig ändern können, sollten seltener abgebildet sein. Konkret: Es wäre zu erwarten, dass Tötungsdelikte in fiktionalen Welten häufiger Thema sind als etwa Erdbeben, Vergiftungen oder Herzerkrankungen.
Um zu prüfen, ob diese Voraussage hält, haben die Anthropologen 744 englischsprachige Romane aus dem 20. Jahrhundert gesichtet und fiktionale Todesraten errechnet. Es bestätigte sich, dass Unterhaltungswelten hochgefährliche Orte sind: Die Sterberaten von Romanfiguren lagen – bezogen auf ein beliebiges Jahr und 100’000 Einwohner – gut 100-mal höher als in der Realität. Und: Wie vorausgesagt, waren Tötungsdelikte als Todesursache im Vergleich zu realen US-Sterbestatistiken massiv überrepräsentiert (Rate etwa 700-fach höher); die Verzerrungen bei Suiziden (etwa 120-fach), Unfällen (etwa 60-fach) oder natürlichen Todesursachen (etwa 30-fach) fielen dagegen hypothesenkonform erheblich kleiner aus.
Nun liesse sich einwenden, dass man extreme Bedrohungsszenarien auch durch Nachrichtenformate oder andere nicht fiktionale Quellen kognitiv erkunden könnte. Müssten diese dann nicht auch einen morbiden Drall aufweisen, sofern die Simulationshypothese zutrifft? Tatsächlich gibt es dafür Hinweise. So haben 2018 US-amerikanische Studierende um Owen Shen für ein Projekt der University of California in San Diego untersucht, über welche Todesursachen die New York Times und der britische Guardian berichten – und diese dann ebenfalls mit offiziellen Sterbestatistiken abgeglichen. Auch hier zeigte sich, dass Terrorakte oder Tötungsdelikte als Todesursachen im Vergleich zur Realität stark überrepräsentiert waren; für Erkrankungen, Vergiftungen oder Unfälle galt indes eher das Gegenteil.
Unerwartet bot sich 2020 zudem die Möglichkeit, die Simulationshypothese quasi einem Praxistest zu unterziehen: Würden Fans von fiktionalen Welten, in denen Alieninvasionen oder Zombieangriffe drohen, womöglich besser auf die Covid-19-Pandemie vorbereitet sein als Nichtfans? Ja, sagt Scrivner – und bezieht sich dabei auf Ergebnisse einer Onlinestudie, die er zusammen mit Kollegen 2021 im Journal «Personality and Individual Differences» veröffentlicht hat. Für die Untersuchung hatte das Team bei 310 Teilnehmenden verschiedene Genrepräferenzen und Persönlichkeitseigenschaften erhoben. Zudem sollten sie bewerten, wie sie mit den Folgen der Pandemie zurechtkamen (Resilienz) und wie gut sie sich psychologisch auf eine Pandemie vorbereitet fühlten (Preparedness).
Im Ergebnis präsentieren sich Fans von apokalyptischen Genres als resilienter und besser vorbereitet als Personen mit anderen Genrevorlieben. Allerdings: Ausgerechnet ein Zusammenhang zwischen dem Konsum speziell von Pandemiefilmen und Resilienz oder Preparedness fand sich nicht. Und: Auch wenn das Team versucht hat, mit den gemessenen Persönlichkeitseigenschaften auszuschliessen, dass ein dritter Faktor die Zusammenhänge zwischen Genrepräferenzen und «Pandemietauglichkeit» erklären könnte, bleibt diesbezüglich eine Restunsicherheit.
Bei Gruselfotos werden Belohnungsnetzwerke im Gehirn aktiv.
Überhaupt hat die morbide Neugier – wie andere evolutionspsychologische Theorien – damit zu kämpfen, dass sich ihre Grundannahmen nur indirekt prüfen lassen. Darüber hinaus sollte man morbide Neugier vielleicht weniger als festgefügte Theorie verstehen, sondern mehr als konzeptuelle Klammer, die Erkenntnisse unterschiedlicher Forschungsstränge zusammenhalten kann. Eigentlich ist das sogar eine Stärke des Ansatzes, da er von der Biologie bis zur Literaturwissenschaft Disziplinen zusammenbringt, die sich sonst gerne aus dem Weg gehen. Das wiederum nützt auch Studienvorhaben, die prima ohne das evolutionspsychologische Fundament auskommen.
Zum Beispiel hat die Psychologin Suzanne Oosterwijk festgestellt, dass Belohnungsnetzwerke im Gehirn aktiv werden, wenn Personen sich dazu entscheiden, Gruselfotos anzusehen, für die zuvor nur eine Textbeschreibung vorlag. Die Befunde, die Oosterwijk und ihr Team 2020 im Fachblatt Scientific Reports veröffentlicht haben, könnten erklären helfen, warum so viele Menschen Medieninhalte konsumieren, die bei ihnen negative Emotionen auslösen – ein Phänomen, das auch als «Paradox of Horror» bekannt ist. Oosterwijk unterscheidet dabei zwischen einem belohnungsvermittelten Wollen und einem genussabhängigen Mögen. Nur wenn beides im richtigen Verhältnis steht, wäre zu erwarten, dass sich jemand freiwillig morbiden Inhalten aussetzt.
Dieses richtige Verhältnis ist natürlich nicht nur inhalts-, sondern auch personenabhängig. Zwar empfinden wohl alle Menschen ein gewisses Mass an morbider Neugier; Fragebogendaten, die Scrivner 2021 ermittelt hat, zeigen aber, dass es eine Bandbreite an Ausprägungen gibt. Spannenderweise stellte sich bei der Entwicklung des Messinstrumentes heraus, dass morbide Neugier in wenigstens vier unterschiedliche Facetten zerfällt: das Interesse zu verstehen, wie gefährliche Menschen «ticken»; das Interesse an paranormalen Phänomenen; das Interesse, Gewalt zuzuschauen; und das Interesse an körperbezogenen Prozessen wie Operationen oder Verwesung. Ob sich auf Basis dieser Facetten zum Beispiel True-Crime- von Horrorfans unterscheiden lassen, ist eine naheliegende Frage für weitere Forschung.

Bei aller Forschungsbegeisterung sollte indes eines nicht aus dem Blick geraten: Selbst wenn sich wissenschaftlich sinnvolle Erklärungen finden lassen, warum Menschen diese oder jene morbiden Inhalte konsumieren, können Medienschaffende daraus keine Rechtfertigung ableiten, solche Inhalte auch anzubieten. Denn morbide Neugier birgt Risiken.
Sie kann Menschen beispielsweise dazu bringen, sich etwas anzusehen, das gesehen zu haben sie hinterher bitter bereuen – etwa diese eine Horrorfilmszene, die einem immer mal wieder den Schlaf raubt. Auch könnten gewalthaltige Medien ihre Konsumenten – zumindest geringfügig – aggressiver machen.
Oder ängstlicher: So liegen erste Hinweise vor, dass True-Crime-Fans sich mehr vor Kriminalität fürchten als Nichtkonsumenten. Natürlich stellt sich die Frage nach der Wirkrichtung: Hören Ängstliche mehr True Crime, oder macht True Crime ängstlicher? Das lässt sich nach aktueller Datenlage nicht beantworten. Man kann allerdings Forschung aus anderen Bereichen extrapolieren, die dafür spricht, dass der Medienkonsum auch die Kriminalitätsfurcht beeinflussen kann: So etwas ist zumindest schon für Personen dokumentiert, die Verbrechensnachrichten besonders viel Aufmerksamkeit schenken.
Geldmacherei mit dem Leid der anderen?
Und: Crime-Fans sehen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, Teil einer Verwertungsmaschinerie zu sein, die letztlich von Verbrechen profitiert.
Genau das verurteilen Angehörige der Opfer von Serienmörder Dahmer – und legen Netflix zur Last, mit ihrem Leid grosses Geld zu verdienen. Kritiker sehen noch ein weiteres Risiko: Medien würden, wenn sie reale Verbrecher zum Thema machen, Täter nicht nur mit Aufmerksamkeit belohnen oder gar als Anti-Helden glorifizieren, sondern womöglich auch weitere Taten begünstigen. Dass mediale Darstellungen von Delikten Menschen beeinflussen können, ist unter Expertinnen und Experten derzeit eher Konsens. Umstrittener ist dagegen, wie gross diese Effekte sind.
Die US-amerikanische Kriminologin Jacqueline B. Helfgott vom Crime & Justice Research Center der Seattle University hat die Forschungslage 2015 im Fachblatt Aggression and Violent Behavior so zusammengefasst: «Die massenmedialen Einflüsse auf kriminelles Verhalten bewegen sich innerhalb eines Kontinuums. In einigen Fällen spielen die Massenmedien eine eher kleine Rolle – zum Beispiel, wenn eine Idee aus einem Film in ein reales Verbrechen einfliesst. In anderen Fällen treiben sie dagegen Motivation, Modus Operandi und die Art der Straftat selbst an – etwa bei Nachahmungstätern, die psychologisch und kulturell in einem popkulturellen Drehbuch aufgegangen sind und danach handeln.»
Wichtig: Täter aus dem Fokus nehmen.
Gleichzeitig bewertet Helfgott die aktuelle Datenlage als ausbaufähig, da sie häufig eher auf Anekdoten basiere als auf breiter Empirie. Ein Stück weit liegt das allerdings in der Natur der Sache, da es gerade seltene Verbrechen wie Serienmorde oder Amokläufe sind, die eine massive mediale Aufmerksamkeit nach sich ziehen. Diese Seltenheit und andere methodische Herausforderungen machen es schwer, die Frage befriedigend zu beantworten, ob Thriller, True-Crime-Dokumentationen oder auch die blosse Berichterstattung über Gewaltverbrechen die Welt womöglich unsicherer machen. Weil sich dieses Risiko aber nicht ausschliessen lässt, erscheint es sinnvoll, es so klein wie möglich zu halten. Aber wie?
Diverse Expertinnen und Experten plädieren etwa dafür, in der medialen Aufbereitung bestimmter Gewaltverbrechen nicht auf die Täter selbst zu fokussieren. Denn viele Täter bezögen sich auf die eine oder andere Weise auf vorherige Täter, konstatiert etwa der US-Psychologe Peter Langman, der 2018 eine entsprechende Analyse von Amokläufen im Journal American Behavioral Scientist vorgelegt hat. Er warnt daher: «Je mehr sich die Medien auf die Täter und nicht auf die Opfer konzentrieren, desto mehr gewaltgefährdete Menschen werden wahrscheinlich dazu gebracht, selbst Anschläge zu verüben – sei es aufgrund von Nachahmung, Inspiration, Idolisierung, wahrgenommenen Ähnlichkeiten, Sympathie für die Sache oder dem Wunsch nach Ruhm.»
Dabei lässt sich morbide Neugier prinzipiell auch gut bedienen, wenn die Täter selbst nicht im Mittelpunkt stehen. In einem Experiment liess sich zeigen, dass Menschen sich mehr für News über eine Person interessieren, die durch ihr Eingreifen einen Amoklauf beendet hat, als für neue Nachrichten über den Täter oder das erste Opfer. Die Story über die heldenhafte Intervention hätte deswegen das grösste Interesse geweckt, weil sie am ehesten potenziell überlebenswichtige Informationen verspricht, vermutet das Team in seiner Ergebnisdiskussion. Das führt direkt zurück zur Kernfunktion morbider Neugier – zumindest so, wie sie Scrivner und auch andere Forschende verstehen: Letztlich konsumieren Menschen Killerserien und True-Crime-Podcasts, um nicht selbst mal als Opfer darin vorzukommen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.