Prozess in MoutierFrauen als Dienstmädchen gehalten: Machtausübung und Bequemlichkeit
Vier Frauen aus dem Balkan sollen von einem Clan wie Sklavinnen gehalten worden sein. Erst nach 16 Jahren gelang ihnen die Flucht.

Ein patriarchalisches Familienoberhaupt, vier Söhne und deren aus dem Balkan illegal in die Schweiz gebrachte Ehefrauen. Und eine Anklageschrift, die sich angesichts der Anschuldigung brachialer Gewalt nur schwer lesen lässt: Das ist der Hintergrund eines aufsehenerregenden Prozesses um einen Familienclan aus dem Balkan, der am Montag am Regionalgericht in Moutier beginnt.
Die vier damals noch Minderjährigen wurden mit dem Versprechen in eine Familie in die Schweiz gebracht, dass sie hier ein besseres Leben vorfinden und eine Ausbildung machen können. Die erste Frau wurde 2003 aus Albanien (wie später zwei weitere Frauen, eine kam aus Serbien) in den Berner Jura geholt. Die Jüngste war bei ihrer Ankunft gerade einmal 14 Jahre alt. In die Schweiz kamen sie illegal, zum Teil über die grüne Grenze, teilweise mit falschen Papieren. Sie mussten dabei beispielsweise eine Nacht lang durch den Wald gehen.
Das sagt der Berner Anwalt Dominic Nellen gegenüber «Blick». Und auch: «Die gemachten Versprechen haben sich überhaupt nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Die Frauen kamen hier in eine regelrechte Hölle.» So wurden sie direkt nach der Ankunft in ein Zimmer gezerrt und dort vergewaltigt. Später folgte eine Zwangsheirat.
Dominic Nellen vertritt zwei der vier misshandelten Frauen, die er seit drei Jahren begleitet. Laut Nellen handelt es sich um eine Familie mit patriarchalischen Strukturen: den Vater, der das Sagen hatte, bei dem die Fäden zusammenliefen, und dessen vier Söhne, die in der Schweiz aufgewachsen sind. «Der Vater stand im Zentrum und gab der ganzen Familie Befehle», sagt Nellen. So mussten die Schwiegertöchter ihm und seinen Söhnen beispielsweise die Füsse waschen. Doch nicht nur das: Sie wurden geschlagen und vergewaltigt.
Sie bestreiten, etwas Widerrechtliches getan zu haben
Laut Anwalt Dominic Nellen finden weder der Schwiegervater, das Clan-Oberhaupt, noch die Söhne, etwas Widerrechtliches getan zu haben. «Es geht also um Aussage gegen Aussage», sagt er. Und: «Es gibt aber objektive Beweise, dass es Misshandlungen gab.» Details will er keine nennen, doch gegenüber dem Bieler Tagblatt sagt er, es gebe neben Zeugenaussagen auch entsprechende Arztberichte. Für den Anwalt ist klar: Hinter dem unmenschlichen Verhalten steckt auch das mittelalterliche albanische Gewohnheitsrecht Kanun.
«Es war ein nahezu hermetisch abgeriegeltes System.»
Der Prozess am Regionalgericht wird mit einer Fünfer-Besetzung geführt. Schon jetzt ist also klar, dass für die Beschuldigten eine Gefängnisstrafe von über fünf Jahren im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten droht. Dominic Nellen sagt gegenüber «Blick»: «Ich werde selbstverständlich für meine Klientinnen eine hohe Genugtuung verlangen.» Nellen betont dabei: «Was diese Frauen erlebt haben, lässt sich mit keinem Geld wiedergutmachen. Egal wie hoch die Genugtuung ausfallen wird, es wird ein symbolischer Betrag sein, weil die Frauen das Erlebte nie mehr vergessen werden.»
Für Dominic Nellen handelt es sich aus zwei Gründen um einen ausserordentlichen Prozess: Erstens, weil die vier Frauen aus ärmlichen Verhältnissen unter völlig falschem Vorwand in die Schweiz gelockt worden seien. Was für die damals Minderjährigen wie ein Jackpot im Lotto klang, wurde zu deren Alptraum. Und zweitens, weil danach im Umfeld und in der direkten Nachbarschaft keiner etwas mitbekommen habe. Sie bezogen Sozialhilfe, gebaren Kinder und wurden von ihren Männern geschlagen und regelmässig mit dem Tod bedroht – beispielsweise, wenn sie länger wegblieben als geplant.
«Es war ein nahezu hermetisch abgeriegeltes System, aus dem es den Frauen erst 2019 gelang, auszubrechen», sagt der Anwalt. Man dürfe sich dabei nicht vorstellen, dass die Ehefrauen ständig eingesperrt waren und deshalb nicht flüchteten. «Sie konnten die Wohnung auch mal verlassen, waren sogar mit den Kindern auf dem Spielplatz. Doch sie standen so stark unter psychischem und physischem Druck, dass sie sich nicht gewagt haben auszubrechen.»
Die Frauen sprachen kein Französisch, kannten das Schweizer System nicht. Es soll ihnen gedroht worden sein: «Wenn du gehst, werden wir dir die Kinder wegnehmen und dich aus dem Land werfen.»
Wie Dienstmädchen, für die man Sozialhilfe erhält
Erst als das Sozialamt im Berner Jura von den Frauen verlangte, einen Sprachkurs zu besuchen und Arbeitseinsätze zu leisten, konnten diese erkennen, in welchen Strukturen sie gefangen waren, und sich daraus befreien. Ebenso wurden zu diesem Zeitpunkt die Behörden aufmerksam auf den Fall. Anfänglich sollen sich die Männer geweigert haben, die Auflagen zu befolgen, erst als mit Geldkürzungen gedroht wurde, willigten sie ein.
Die Männer sollen nach der Flucht versucht haben, die Söhne der Frauen zurückzuholen. Als dies nicht gelang, versuchten sie über das Migrationsamt, die Ausschaffung der von ihnen getrennten Frauen zu erwirken. Ein Unrechtsempfinden haben sie dabei wohl nicht gehabt. «Das Motiv war Machtausübung und Bequemlichkeit», sagt Nellen. Schliesslich hielt die Familie die Frauen gefangen, damit sich diese wie Dienstmädchen um den Haushalt und den der Schwiegereltern kümmern.
Dominic Nellen geht davon aus, dass es sich um keinen Einzelfall handelt. «So etwas kommt vielleicht öfters vor, als wir denken.» Den Frauen, die nun alle um die 30 Jahre alt sind, gehe es heute besser. Sie hätten laut Nellen in den letzten drei Jahren Zeit gehabt, Boden unter den Füssen zu finden. Auch mithilfe von Ämtern und Fachstellen.
Nichts sagen zum Fall will Dimitri Gianoli, einer der Anwälte der Beschuldigten, die sich in Freiheit befinden. Er sagt gegenüber dem «Journal du Jura» lediglich, dass er sich nicht vor Beginn der Verhandlung äussert, um diese nicht zu beeinflussen.
Den Beschuldigten droht eine Strafe wegen Menschenhandels, Zwangsheirat, Körperverletzung, Nötigung, Vergewaltigung und sexuellen Handlungen mit Kindern. Das geforderte Strafmass wird erst an der Verhandlung bekannt gegeben. Es gilt die Unschuldsvermutung.
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