«Ich habe keine Hände, die mein Gesicht streicheln»
Im Chalet Muri, ein wenig verborgen, auf einem Hügel, fast in den Wipfeln der Bäume, sind dieser Tage Kunstwerke des Jahrhundertfotografen Mario Giacomelli (1925–2000) zu sehen.
Ein Kiesweg führt hinauf. Innen ist das Haus hell und freundlich. Ein Streifen Sonnenlicht vom Fenster her bringt die Bilder gerade zum Leuchten. Alle Fotografien Giacomellis sind schwarzweiss, fast ohne Grautöne. Souverän und edel wirken sie, zauberhaft im kommenden Sonnenlicht. Giacomelli selbst sagte, er fotografiere eigentlich nicht, sondern erfinde Bilder. Nicht das Äussere bilde er nach, sondern das Innere. Wir warten. Es ist still, ein wenig wie zur Andacht.
Da fällt eine Tür ins Schloss, die elegante Ledermappe in Schwarz landet nach ihrem Flug sicher im gepolsterten Stuhl, und Claudio Righetti ist da und sogleich ganz bei der Sache. Er und sein Vater haben während Jahrzehnten diese eindrückliche Sammlung zusammengetragen. «Ich habe bei Giacomelli als Kind eine Scheibe eingeschlagen», erzählt Claudio Righetti, «beim Fussballspiel auf der Strasse vor seinem Haus.»
Seine Mutter stammte wie Giacomelli von Senigallia, weshalb die Familie hier oft Sommerferien machte. Claudio musste sich natürlich bei Giacomelli für das zerbrochene Glas entschuldigen. So hat alles angefangen. Sie lernten sich kennen. Righetti kaum 13-jährig, Giacomelli 50-jährig. Man verstand sich. Giacomelli besass eine Kunstsammlung, Werke von De Chirico, Miró, Dalí. Später kaufte Righetti bei Giacomelli Kunstgrafiken für seine Berner Galerie. Man war mittlerweile befreundet. Aber erst nach Jahren zeigte Mario seine Fotografien den Righettis. Die Magie der Bilder wirkte. Vater und Sohn wurden ihre aufmerksamen Sammler.
So, wie ich wollte. Basta!
«Sehen Sie! Auf diesem Bild ist ein Baum, der eigentlich dort nicht hingehört», sagt Righetti. Eine Fotografie bildet die Realität ab, etwas also, das es gibt. Aber dieser Baum, der da so schön in der Beuge einer Ackerfurche steht, leicht schräg vom ewigen Wind, der ist nicht gewachsen, sondern wurde von Giacomelli in das Foto «eingeätzt». Darüber gab es eine heftige Unterhaltung.
Eines Tages kam ein oranger Agfa-Umschlag bei Righetti an. Darin eine abstrakte Landschaft, in der Bildmitte der geätzte Baum, dazu die Handschrift Giacomellis: «Così, come volevo!» Übersetzt: So, wie ich wollte. Basta! Für Righetti macht das klar, dass bei Giacomelli die Komposition des Bildes wichtiger ist als alles andere. Righetti: «Er war in seinem Wesen durch und durch Künstler.» Giacomelli sagte stets, er fotografiere Gedanken. Gedanken gegen die Traurigkeit. – Was soll man da sagen?
Giacomelli hat seine Fotografien immer wieder neu komponiert. «Er liebte es, seine Fotos mit der Hand zu berühren, die ‹Materie› zu spüren», erklärt Righetti. Die Negative lagerten in einer Wandnische seiner Dunkelkammer, in alten Blechschachteln für Biskuits. Die meisten sind vergilbt und sind unbrauchbar geworden. Aber was sollen sie schon beweisen? Negative. – Giacomelli fotografierte nicht einfach, was er sah, sondern er hat sich auch mal selber auf einen Traktor gesetzt, um einem Feld mit dem Pflug die passende Struktur für ein Foto zu geben.
Er war ein Vorreiter der Land-Art. Kam er von Ausflügen zurück, war seine Hand vollgeschrieben mit Zahlen und Zeichen, kleinen Ikonen, seinen Notizen über das Licht und schöne Orte. Er hat wenig dem Zufall überlassen und seine Bilder genau geplant. Aber eigentlich, sagte er, habe er nie eine Landschaft fotografiert. Er habe sie stets bloss geliebt.
Über Licht und Leben
Oft sagte er auch, die Zeit sei sein Gegner. Und mit der Zeit war Giacomelli ein berühmter Fotograf geworden. Die Welt kam zu ihm nach Senigallia. In seiner Druckerei, wo er täglich Kunden empfing, besuchten ihn nun auch Kunstkenner und Museumsleute, und er erzählte ihnen dort die grosse Geschichte über das Licht und das Leben. Wenn Besserwisser da waren, verschwand Giacomelli bald für einen Kaffee in der Bar auf der Piazza. «Und zwar auf Nimmerwiedersehen», sagt Righetti schmunzelnd. Die Fotografien Giacomellis wurden in New York, Paris, Moskau und London ausgestellt.
Er selber ging nie zu Vernissagen, blieb daheim, in Senigallia. «Aber für die grosse Retrospektive im Musée de l'Elysée in Lausanne wollte ich ihn unbedingt dabeihaben», sagt Righetti. «So habe ich ihn kurz entschlossen entführt.» Giacomelli packte das Nötigste, Zahnbürste, Wäsche und ein schwarzes Hemd für den Anlass in einen Plastiksack vom Kaufhaus Standa, da fuhren sie los. Giacomelli blieb ein paar Tage in Bern. Altstadt und Abendlicht bewunderte er, und er hat Frauen gesehen, die ihm gefielen. «Danach sprach er öfters von Bern», sagt Righetti. Er nannte es «paesaggio di sogno», Traumlandschaft.
Auf der Rückfahrt von Bern war Giacomelli in gehobener Stimmung, und zwischen Milano und Senigallia erzählte er Righetti ganz offenherzig von Liebschaften. «Das war ja kein Geheimnis. Er flirtete fürs Leben gern. Aber ich war dann doch überrascht, in wie vielen Orten, meist kleine Dörfer zwischen Milano und Senigallia, er sein Herz an eine schöne Frau verloren hatte.»
Wir können nicht sagen, wie die Liebe Mario Giacomelli über Senigallia hinausgetragen hat. Seine Bilder aber sprühen nun vor Einfallsreichtum und Kraft, sind kühn und klar. «Ich habe keine Hände, die mein Gesicht streicheln» heissen die Fotografien, vor denen wir stehen bleiben. Es sind vielleicht seine berühmtesten Werke. Priesterschüler tanzen Ringelreihen in schwarzen Soutanen, spielen wie Kinder. Wir schweigen. Die Bilder sagen alles.
Die Ausstellung kann nach telefonischer Anmeldung (031 951 60 10) bis 17. Dezember im Chalet Muri besucht werden.
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