Lehrpersonenmangel im Kanton Bern «Ich kann mehr als ein Junglehrer»
Ein Gymerlehrer, der im Kanton Bern in der Volksschule unterrichtet, erhält weniger Lohn als Kollegen auf der gleichen Stufe. Bremst das motivierte Leute aus?

Sandro Trunz ist keiner, der ein Blatt vor den Mund nimmt: «Es kann doch nicht sein, dass ich als ausgebildeter Gymnasiallehrer weniger Lohn erhalte.» Der 45-Jährige unterrichtet eine dritte Sekundarschulklasse in Biel (Sek I). Weil er über ein Gymer-Lehrdiplom (Sek II) verfügt, muss er einen sogenannten Vorstufenabzug in Kauf nehmen: Er bekommt 10 Prozent weniger Lohn als ein ausgebildeter Sekundarlehrer.
Das sei ungerecht, findet Sandro Trunz. «Ich hoffe schon, dass ich etwas mehr kann als ein Junglehrer.» Zum Beispiel habe er einige Erfahrung im Umgang mit schwierigen Situationen. «Wenn es beispielsweise mal eine Schlägerei gibt unter den Jugendlichen, kann ich meist souverän und mit genügend Autorität auftreten.»
70 Sekundar- und Realschullehrer gesucht
Dass er als Seklehrer (Anfangslohn: 6700 Franken im Monat) ohnehin weniger Geld erhält denn als Gymerlehrer (Anfangslohn: 8000 Franken) – geschenkt. Sandro Trunz hat sich bewusst für diesen Job entschieden: «Die Wertschätzung von Eltern und Jugendlichen – wenn ich etwa bei der Berufswahl helfen kann – ist enorm.» Auch die Herausforderung sei ihm willkommen. Stossend ist für Sandro Trunz aber, dass er mit dem Vorstufenabzug dafür bestraft wird, dort auszuhelfen, wo akuter Personalmangel herrscht: in der Volksschule.
Ein Blick in das Lehrpersonen-Stellenportal des Kantons Bern zeigt: Aktuell werden 10 Lehrpersonen für Mittelschulen (Gymnasium und Fachmittelschulen) gesucht, auf Sekundar- und Realschulstufe sind es viel mehr: 70. In der Primarschule fehlen sogar fast 200 Lehrerinnen und Lehrer – auch dort müsste jemand mit Gymer-Lehrdiplom eine Lohneinbusse gegenüber seinen Kolleginnen und Kollegen in Kauf nehmen.
Ein falsches Signal?
Verschlimmert der Kanton Bern mit seinen starren Anforderungen den Lehrpersonenmangel in der Volksschule? Die Bildungsdirektion geht gar nicht erst auf die Frage ein, sondern hält fest: Falls eine Gymer-Lehrperson nur in den Fächern unterrichte, die ihrem Diplom entsprächen, gebe es keinen Abzug. Im Falle von Sandro Trunz hiesse das, er könnte sich einfach auf die Fächer Französisch und Englisch konzentrieren und alles wäre in Butter.
Das würde allerdings die Vielfalt seines Jobs einschränken und seinen Bezug zu den Jugendlichen mindern, weil er sie nicht mehr so häufig sähe. «Dabei macht genau das den Reiz meines jetzigen Jobs aus. An einem Gymnasium wäre die Beziehung zu den Jugendlichen viel distanzierter.»
Direkter auf die Frage, ob der Stufenabzug sinnvoll ist, geht die Pädagogische Hochschule Bern ein. «Die Herausforderungen auf der Oberstufe sind ganz andere als am Gymnasium», sagt Mediensprecher Michael Gerber. Es mache einen Unterschied, ob jemand vor 13- bis 15-Jährigen stehe oder vor jungen Erwachsenen ab 16 Jahren. «Eine Lehrperson mit Lehrdiplom für die Sekundarstufe II ist fachlich hoch qualifiziert, aber fachdidaktisch und auch in Bezug auf die erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Studieninhalte ganz anders ausgebildet.»
Die unterschiedlichen Ausrichtungen zeigen sich auch an den Ausbildungsgängen: Eine Gymnasiallehrperson macht ein mindestens viereinhalbjähriges Masterstudium an einer Universität und studiert anschliessend ein Jahr an der Pädagogischen Hochschule (PH). Eine zukünftige Lehrperson auf der Sekundarstufe I dagegen verbringt mindestens viereinhalb Jahre an der PH und absolviert dabei bis zu 33 Wochen an Praktika.
Wer seine Unterrichtsstufe wechseln möchte, kann ein vorhandenes Lehrdiplom ergänzen. Michael Gerber verweist auf den «konsekutiven Masterstudiengang». Jeder mit mindestens einem universitären Bachelordiplom in einem Schulfach erlangt damit in zwei Jahren PH-Studium das Sek-I-Lehrdiplom. Wer ein Diplom fürs Gymnasium hat, kann verkürzt studieren.
Motion eingereicht
Für Sandro Trunz ist das ein Affront. «Ich werde doch nach fünf Jahren Studium und mit über 40 Jahren nicht noch einmal Vollzeit die Schulbank drücken.» Er findet, die Pädagogische Hochschule müsste «ein vernünftiges Brückenangebot» ausarbeiten. «Ein paar kleine Kurse an einigen Wochenenden, das würde weitaus reichen.» Schliesslich eigneten sich die meisten Lehrkräfte das Handwerk sowieso erst bei der Arbeit an. «Das Wissen, wie man Abklärungen aufgleist oder mit der Berufsberatung zusammenarbeitet, ist schnell da. Zudem arbeiten wir ja in einem erfahrenen Team.»
Das Dilemma wird jetzt auch zum politischen Thema. Der Berner Lehrer und Grossrat Alain Pichard (GLP) hat kürzlich eine dringliche Motion eingereicht, die dafür sorgen soll, dass der Stufenabzug abgeschafft wird für Gymnasiallehrer, die an der Sek 1 arbeiten. Er meint: «Fachliche Kompetenz sollte man nicht einfach unterbewerten. Die Regelung ist schikanös, wir werden diese Leute verlieren.» Die Dringlichkeit der Motion wurde bereits gewährt. Die Antwort des Regierungsrats steht aber noch aus.
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