«Ich will nicht bis 80 Hausärztin bleiben»
Brigitta Morgenthaler führt seit 32 Jahren eine Praxis. Für sie ist es ein Traumjob. Aber sie ist sich bewusst, dass junge Ärztinnen und Ärzte heute andere Erwartungen an diesen Beruf haben.

Der Wegweiser steht an einer Stelle, wo man das Ziel eigentlich gar nicht mehr verfehlen kann. «Hausarztpraxis» steht da, und der Pfeil zeigt drei Meter weiter Richtung Eingang.
Eigentlich sollte die Hinweistafel vorne an der Hauptstrasse stehen. Aber die Kantonsbehörden befanden seinerzeit, der Wegweiser entspreche nicht den Richtlinien. Zu werbehaft sei er.
Dass Brigitta Morgenthaler diese Behördenepisode mit Humor nehmen kann, liegt nicht nur an ihrem entspannten Naturell. Eigentlich weiss sie genau, dass ihre Patienten den Weg so oder so zu ihr finden werden.
Nicht zuletzt weil alle schon einmal hier waren. «Leider können wir zurzeit keine neuen Patienten aufnehmen», heisst es auf der Website der Roggwiler Gemeinschaftspraxis. Und weiter: «Wir bemühen uns, unser Team durch einen weiteren Arzt oder eine weitere Ärztin zu stärken.»
Eine schwierige Suche
Der Hausärztemangel ist ein bekanntes Phänomen. Aber er verschärft sich von Jahr zu Jahr. In der Region Oberaargau herrscht unter den heute noch praktizierenden Hausärzten Alarmstimmung.
Viele gehen in den nächsten Jahren in Pension. Die Suche nach einer Nachfolge gestaltet sich überall schwierig. Auch Brigitta Morgenthaler könnte eigentlich seit 2 Jahren in Pension gehen. Sie ist 65 Jahre alt. Aber ans Aufhören denkt sie noch nicht.
Das muss sie ihren Patienten seit einiger Zeit immer wieder versichern. Und dennoch macht auch sie sich Gedanken, wie die Situation in Roggwil bald aussehen wird. «Ich will nicht bis 80 Hausärztin bleiben», sagt sie klar.
Die Suche nach neuem Ärztepersonal begleitet Morgenthaler seit der Eröffnung der Gemeinschaftspraxis im Jahr 2009. Mit Alexandra Giger fand sie zwar eine Praxispartnerin, die sie tatkräftig unterstützt – jedoch aus familiären Gründen nur Teilzeit arbeitet.
Daneben gab es immer wieder Zwischenlösungen. Aber nie kam jemand mit der Absicht, sich für längere Zeit in der Region niederzulassen. Dabei wären viele Arbeitsmodelle möglich: Teilzeit, angestellt, selbstständigerwerbend. «Es bräuchte einfach jemand, der hier verwurzelt ist oder sich vorstellen kann, hier Wurzeln zu schlagen», sagt Morgenthaler.
Trend zur Spezialisierung
Es ist die Frage, die man sich in der ganzen Schweiz stellt: Wie bringt man junge Ärzte wieder aufs Land? Fast alle gut ausgebildeten Akademiker zieht es heute in die Städte, da machen die Ärzte keine Ausnahme. Und was bei den Ärzten auch ähnlich ist wie in anderen Berufen: Wer Karriere machen und viel Geld verdienen will, sucht sich am besten ein Spezialgebiet. Das machen Anwälte so. Das machen Treuhänder so. Und viele andere Berufsgruppen auch.
Diese Trendfaktoren sprechen dafür, dass sich die Situation mit den fehlenden Hausärzten weiter zuspitzen wird. Aber das Beispiel von Brigitta Morgenthaler zeigt, dass es auch andersrum gehen kann. Auch sie wurde nach ihrer Ausbildung zur Spezialistin. Am Inselspital befasste sie sich in ihren ersten Berufsjahren vor allem mit Nieren- und Schilddrüsenerkrankungen.
Aber das war ihr mit der Zeit nicht mehr genug. «Ich wollte den Menschen als Ganzes versorgen», sagt sie. So übernahm sie 1985 die Hausarztpraxis ihres Vaters in Roggwil, dem Dorf, in dem sie aufwuchs. Sie sagt, dass sie sich in ihrer Jugend nicht vorstellen konnte, in Roggwil zu bleiben und zu arbeiten. Aber bereut hat sie diesen Schritt nie. «Für mich ist das hier ein Traumjob», sagt Morgenthaler.
Dies trotz der vielen Arbeitszeit. Aber daraus macht Morgenthaler ein gut behütetes Geheimnis. Wie viele Stunden ihre Arbeitswoche hat, behält sie für sich. «Das wäre nur abschreckend», sagt sie im Hinblick auf junge Ärztinnen und Ärzte, die sich für diesen Beruf interessieren.
Denn Morgenthaler ist sich bewusst, dass ihr Berufsverständnis sich heute nur noch die wenigsten aneignen wollen. Es ist noch die alte Hausarztschule: Rund um die Uhr erreichbar, immer da, wenn es einen braucht. «Junge Ärzte können sich heute viel besser abgrenzen», sagt sie «Und das ist auch gut so.»
Ab Juli gibt es Entlastung
In den letzten Jahren hat sich diesbezüglich viel getan. Teilzeitmodelle haben sich etabliert. Es ist heute durchaus möglich, Hausarzt zu sein und daneben noch Hobbys zu haben. Abschreckend ist für viele noch das breite Gebiet, das ein Hausarzt abdecken muss.
Aber Morgenthaler sagt, dass sich diese Angst in der Regel früh legt. «Man muss zwar viel wissen, aber nicht alles können.» Es ist ganz normal, wenn man Patienten mal zu einem Spezialisten schicken muss, weil man auf einem Gebiet kein Experte ist.
Und so gibt vielleicht ein anderer Trend etwas Hoffnung: Für viele Junge steht heute nicht mehr nur eine Karriere und eine gute Bezahlung im Vordergrund, sondern auch Sinn und Wert einer Arbeit.
In dieser Hinsicht müsste der Hausarztberuf ganz vorne mit dabei sein. «Ich glaube, es ist wichtig, dass die Patienten noch immer eine Bezugsperson haben, an die sie sich wenden können», sagt Morgenthaler.
Ab Juli wird sie wieder etwas entlastet. Dann wird eine neue Ärztin in der Gemeinschaftspraxis starten. Zwar will auch sie sich nicht dauerhaft in der Gegend niederlassen, aber vorübergehend ist es eine Lösung.
Und trotzdem: Die Praxis muss auch dann noch täglich zehn Anfragen von neuen Patienten ablehnen. Um mehr Patienten behandeln zu können, müssten noch mehr Ärzte den Wegweiser nach Roggwil finden.
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