Internierte im OberhasliInvasion des Elends
Erst lehnte man ihre Aufnahme ab, dann wollte man sie nicht mehr hergeben: Wie Brienz und Meiringen mit den Bourbaki-Internierten umgingen.

Vor 150 Jahren wurde die Schweiz vor eine enorme humanitäre Herausforderung gestellt. Im Februar 1871 überschritten fast 90’000 französische Soldaten die Landesgrenze. Bei eisigen Temperaturen betrat die demoralisierte und verlotterte Bourbaki-Armee auf der Flucht vor munteren und bestens ausgerüsteten deutschen Truppen den rettenden Schweizer Boden.
Für die geflüchteten Franzosen baute das wenige Jahre zuvor gegründete Rote Kreuz innert Kürze eine logistische Hilfsmaschinerie auf, die in ganz Europa Eindruck machte. Die hungrigen und von der Kälte in Mitleidenschaft gezogenen französischen Soldaten wurden noch im Neuenburger Jura mit heisser Suppe und warmen Kleidern versorgt. Danach verteilte man sie auf alle Landesteile, wo sie während sechs Wochen verblieben. Später konnten die Internierten wieder in ihre Heimat zurückkehren.

Was aus heutiger Sicht als edle Geste der involvierten Gemeinden erscheinen mag, löste damals beträchtliche Turbulenzen aus. Die Internierten wurden den Dörfern und Städten nämlich nach einem Schlüssel zugewiesen, der manchenorts als äusserst ungerecht empfunden wurde und zu heftigen Protesten führte. Besonders drastisch fiel die Aktion für die Berner Oberländer Gemeinden Brienz und Meiringen aus: Jeder der beiden wurden je 500 Franzosen zugeteilt. Das entsprach einem Fünftel der damaligen Wohnbevölkerung.
Ins verwüstete Dorf «geworfen»
Insbesondere in Brienz stiess dies auf grosses Unverständnis. Teile des Dorfs waren im Jahr zuvor beim Ausbruch des Trachtbachs verwüstet worden. Man frage sich, was die Kantonsregierung bewogen habe, «deren 500 nach Brienz zu werfen», kritisierte das «Thuner Wochen-Blatt» am 8. Februar 1871. Es mangle dort sogar an Stroh, «dem primitivsten Lagermaterial». An gleicher Stelle wurde auch die Frage aufgeworfen, warum Thun «mit 3000 Mann überschwemmt wurde», während Bern «mit seinen vielen grossen Lokalen im Ganzen nur 4000 zu beherbergen hat».
Gemäss Weisung des Regierungsrats waren die Internierten in grösseren Örtlichkeiten «wie öffentlichen Gebäuden, Tanzsälen, Scheunen etc.» einzuquartieren. Für ihre Überwachung standen Angehörige der Schweizer Armee im Einsatz. In Brienz und Meiringen etwa war zu diesem Zweck je eine Kompanie (80 bis 200 Mann) stationiert.
Und trotzdem eine freundliche Aufnahme
Aufgrund dramatischer sanitarischer Umstände auf der Flucht waren zahlreiche französische Soldaten an Typhus erkrankt. Während der nachfolgenden Internierung verstarb ein Teil von ihnen daran. In Brienz wurden Mitte Februar 1871 drei solche Todesfälle verzeichnet.
Die Bevölkerung nahm daran offenbar grossen Anteil. In einem weiteren Bericht heisst es im «Thuner Wochen-Blatt» in diesem Zusammenhang, das Verhältnis zwischen den Internierten und den Einheimischen sei «ein recht freundliches, ja brüderliches»; die Bevölkerung gebe sich alle Mühe, «unseren unfreiwilligen Gästen ihr Los nach Kräften zu erleichtern».

Wie die Einheimischen die französischen Soldaten aufnahmen und mit ihnen umgingen, lässt sich nur indirekt nachzeichnen. Aufschlussreich ist eine Protestnote gegenüber dem Kanton von Anfang März 1871: Mehrere Gemeinden, darunter ausgerechnet Brienz und Meiringen, weigerten sich rundweg, die ihnen zugeteilten Internierten wieder abzugeben. Begründet wurde dies wie folgt: Nachdem die Franzosen «gereinigt und mit frischer Wäsche versehen» worden seien, wolle man sie «lieber behalten».
Nicht allein barmherzig
Innert weniger Wochen war somit ein rigoroser Sinneswandel eingetreten – aus Fremden waren offenbar Freunde geworden. Vermutlich ging es dabei jedoch nicht nur um Barmherzigkeit, wie Daniel Segesser zu bedenken gibt. Der Historiker ist an der Universität Bern tätig und auf Schweizer Militärgeschichte spezialisiert.
Die entkräfteten Franzosen seien von der ansässigen Bevölkerung zwar zunächst als grosse Gefahr wahrgenommen worden, weil sie ansteckende Krankheiten mit sich brachten. «Im Laufe der Zeit merkte man jedoch, dass man von der eigentlich unerwünschten Situation auch profitieren konnte.» Die Internierten brachten Ausrüstung, eine ordentlich gefüllte Kriegskasse sowie Tausende von Pferden in die Schweiz.
Zudem lieferte Frankreich Lebensmittel und weiteres Geld für ihren Unterhalt, allerdings wohl auf freiwilliger Basis. «Die Haager Konvention, die unter anderem die Behandlung von Kriegsgefangenen regelt, trat erst Jahrzehnte später in Kraft», erklärt Segesser. Sie wird auch die Bestimmung enthalten, dass gefangene beziehungsweise internierte Truppenangehörige zur Arbeit verpflichtet werden können.
Der Historiker vermutet, dass diese Praxis aber bereits 1871 gehandhabt wurde. «Die Franzosen waren willkommene Arbeitskräfte.» Falls in Brienz die Aufräumarbeiten am Trachtbach noch nicht abgeschlossen waren, habe man sie dort einsetzen können, ebenso für die Aare-Korrektion zwischen Meiringen und Brienz, die in jenen Jahren im Gang war.
Fehler gefunden?Jetzt melden.