«La Suisse romande existe»
Was hält die Westschweiz zusammen? Braucht die Region gar ein eigenes politisches Organ? Die Diskussion ist erneut im Gange.

Gibt es die Westschweiz als zusammenhängende Region, hat sie eine eigene Identität, eine eigene Kultur? Das Forschungsinstitut M.I.S. Trend hat nachgefragt, und fast 90 Prozent von total 1200 Befragten antworteten positiv, «la Suisse romande existe». Man muss bei dem Resultat nicht im Entferntesten an Sezessionsgelüste denken, sondern darf sich mit den Romands ganz einfach über ein neu erwachtes Selbstbewusstsein freuen, das sich vor allem aus einer dynamischen Wirtschaftskraft nährt. Schon vor einem Jahr liess sich Wirtschaftsministerin Doris Leuthard in «L'Hébdo » mit der Aussage zitieren, die Romands glaubten zu Unrecht, nur Zürich zähle in der Schweiz. Tatsächlich zeigt das 2008 erstmals für alle sechs Westschweizer Kantone berechnete Bruttoinlandprodukt (BIP) ein Wachstum, das jenes der Region Zürich sogar überholt. Und gemäss Berechnungen der Universität Lausanne sollte die Westschweiz der aktuellen Krise besser standhalten als die übrige Schweiz. Das ist Balsam auf die Wunden, welche die Krise der 1990er-Jahre schlug. Die Arbeitslosenquote kletterte damals auf das Doppelte des Landesdurchschnitts, strukturelle Defizite türmten Schulden auf. Und in diese Zeit der Verunsicherung fiel auch noch der 6. Dezember 1992, als die Deutschschweizer den Romands das Nein zum EWR aufzwangen.
Dynamischste Region
Tempi passati. «Seit 2000 hat sich die Westschweiz zur dynamischsten Region der Schweiz entwickelt», schreiben die Verfasser der ETH-Studie «Die Westschweiz in 25 Facetten»*. Wirtschaft und Bevölkerung wachsen überdurchschnittlich, das Bildungsniveau ist dank den international renommierten Hochschulen vor allem im Genferseebogen hoch.
Dass die Debatte über die Westschweiz und ihre Identität gerade jetzt wieder geführt wird, hat zwei Gründe: Zum einen hat das Wochenmagazin «L'Hébdo» an seinem diesjährigen «Forum des 100», einem Treffen von Westschweizer Persönlichkeiten, die Studien der ETH Lausanne und des Forschungsinstituts M.I.S. Trend* vorgestellt, zum anderen hat das welsche Fernsehen TSR den Waadtländer SP-Kantonsrat und Spezialisten in politischer Kommunikation, François Cherix, damit beauftragt, eine Momentaufnahme der Westschweiz zu liefern. Fernsehdirektor Gilles Marchand begründet den Auftrag damit, dass die TSR wissen müsse, ob sie mit der Gesellschaft Schritt halte.
Für ein regionales Parlament
Geht mit der Entwicklung der Region auch ein Wandel der Identität einher ? Muss sich die Sprachregion gar neu organisieren ? Der Reformdenker François Cherix meint: Ja. Seit Jahren schon plädiert der Verfasser zahlreicher Schriften für die Bildung einer regionalen politischen Institution. Denn, so stellt der Spezialist in politischer Kommunikation auch in seinem jüngsten Buch «La Question romande»* fest, die Kantonsgrenzen deckten sich längst nicht mehr mit dem Alltag der Bevölkerung, gleichzeitig sei aber die Zusammenarbeit der Kantonsregierungen innerhalb von Konkordaten demokratisch nicht ausreichend legitimiert. «Die Bevölkerung kann nicht mitentscheiden über die Zukunft ihrer Region», stellt Cherix fest. Er ist überzeugt, dass ein regionales Parlament einem echten Bedürfnis entspräche. Bestätigung findet Cherix jetzt in der Studie von M.I.S. Trend. Tatsächlich bejahen 57 Prozent von 500 befragten Romands die Frage, ob die Westschweiz eine kantonsübergreifende, politische Institution mit Koordinations- und Entscheidfunktion einrichten solle; bei den separat befragten Meinungsführern waren es gar 62 Prozent. «Jetzt gibt es kein Tabu mehr», frohlockte Cherix vor dem «Forum des 100».
Theoretisch ja . . .
Befragt man die politischen Exponenten der Kantone, so fällt die Begeisterung über Cherix' Vorschlag allerdings lau aus. Die gemeinsame politische Institution sei zwar als Idee interessant, meint die jurassische Regierungsrätin Elisabeth Baume-Schneider höflich, doch die «Bottom-up-Zusammenarbeit» käme den Bedürfnissen der Bevölkerung näher als ein übergeordnetes Organ. Gerade als Randregion müsse der Jura weiterhin projektbezogen mit anderen zusammenarbeiten, und zwar je nach Sachgebiet über die Landesgrenze hinaus mit Frankreich oder aber mit Neuenburg, mit Basel oder Bern. Zusammengearbeitet wird in der Westschweiz allemal: im Gesundheitswesen, bei der Bildung, bei der Polizei. Sogar die Waadt und Genf, die früher gerne ihr eigenes Süpplein kochten, reichen sich zur gemeinsamen Finanzierung von Verkehrsprojekten jetzt die Hand. Entsprechend unnötig erscheint eine grössere Westschweizer Institution etwa dem Waadtlän-der Regierungspräsidenten Pascal Broulis.
Vor neuen Grenzen warnte in einem Kommentar auch Jean-Jacques Roth, Chefredaktor der überregionalen Tageszeitung «Le Temps». Die Gesellschaft wandle sich als Folge der steigenden Mobilität nicht nur in der Westschweiz, sondern im ganzen Land. Und geradezu allergisch auf die «selbst ernannte Westschweizer Intelligentsia» reagiert im Walliser «Nouvelliste» Journalist Philippe Barraud. Sie rede eine künstliche Einheit herbei, welche die von Geschichte, Religion, Kultur und Gebräuchen geprägten lokalen Gegebenheiten unberücksichtigt lasse. Barraud schreibt: «Die Westschweiz existiert nicht. Zum Glück !» Denn die Schweiz verdanke ihre Stabilität gerade dem Umstand, dass sie eine «Belgisierung» bis heute vermieden habe.
. . . praktisch nein
Das sieht eine Mehrheit der Bevölkerung ähnlich – und zwar auch jene, die sagt: «La Suisse romande existe.» Denn Anzeichen eines sprachethnischen Kampfes für eine «Romandie» à la Roland Béguelin sind weit und breit keine auszumachen, und wer die Studie von M.I.S. Trend zu Ende liest, stellt fest: Die Mehrheit der Befragten hat keine Lust, die Kantone zu einer Grossregion Westschweiz zu fusionieren. Die Romands erkennen bei sich zwar eine eigene Identität, die sie von den Deutschschweizern unterscheidet, hängen aber an der Schweiz mit ihrem föderalistischen System. Und darin hat auch der sogenannte «Röstigraben» Platz. Grösser geworden ist er seit 1992 übrigens nicht.
Weitere Informationen: ETH-Studie: http://tiny.cc/s3Jf5. Studie des Forschungsinstituts M.I.S. Trend: http://tiny.cc/uUhLV. François Cherix: La question romande. Editions Favre, ISBN: 978-2-8289-1079-2.
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