FortsetzungsromanLesen Sie die Folgen 30 bis 59 von «Jenseits der Gier»
Im neuen Kriminalroman von Esther Pauchard will sich eine Oberärztin um die betagte Mutter eines früheren Schulkollegen kümmern – und gerät dabei in gefährliche Tiefen.
Die Folgen 1 bis 29 des Romans finden Sie hier: «Jenseits der Gier» 1 – 29
Bisher erschienen:
Folge 30
Ich versuchte ernsthaft, zu verstehen, wovon die beiden sprachen, scheiterte aber kläglich, wie ich mir sehr bald eingestehen musste. Also lenkte ich mein Interesse auf die nonverbalen Signale, auf Körpersprache, Mimik, Gestik, Stimme, forschte nach Anzeichen von Spannung, von Missstimmung und Konflikt.
Und fand nichts. Die beiden waren sich zwar offenbar nicht in allen Fragen einig, aber ihr animierter Austausch hatte etwas Entspanntes, Einvernehmliches, und als sie sich nach einer halben Stunde verabschiedeten, taten sie es mit der lässigen Warmherzigkeit alter Freunde. Schwer zu glauben, dass dieser Lars hinter dem listigen Einschleichen in die Dubachsche Wohnung stecken sollte, aus welchem Grund auch immer.
«Nun, Sherlock? Miss Marple?», fragte Eric kühl. «Schon eine heisse Spur entdeckt?»
Martin und ich lächelten unverbindlich.
Je länger wir Eric begleiteten, desto müder wurde ich. Es war anstrengend, wort- und sinnlos danebenzustehen, während Eric seine Gespräche führte, es war anstrengend, den von Fachtermini und Insider-Begriffen gespickten Diskussionen zu lauschen, zu versuchen, aus den akademischen Wortschwallen Hinweise zu extrahieren, die uns nützen könnten. Ich spürte, wie sich hinter meinen Brauen ein bösartiger Kopfschmerz zusammenballte, und meine Füsse taten mir weh vom Herumstehen.
Das CERN-Hauptrestaurant indes, das wir über Mittag für ein weiteres Treffen aufsuchten, gefiel mir gut. Ein lichter, weitläufiger, modern möblierter Raum, dessen Glasfronten auf eine grosse Terrasse hinausgingen. Das Restaurant 1 war ein quirliger Schmelztiegel für Menschen allen Alters und aller Nationen. Hier gab es alles, Massanzüge und Jogginghosen, Souveräne und Schüchterne, Laute und Leise, Unauffällige und Exzentrische. Die ganze Welt in einem von einer Kakophonie der Sprachen erfüllten Raum.
Ich bestellte mir im Selbstbedienungsangebot vergnügt eine Higgs-Pizza, um dem Anlass gerecht zu werden, und folgte dann Eric und seinen vier Kollegen zu einem langen Tisch, wo Martin und ich uns ganz am Ende hinsetzten und der bewegten Debatte zwischen den fünf Physikern lauschten, während wir unsererseits schweigend und unbeachtet unser Mittagessen aufassen.
Nach dem Mittagessen musste ich meine Sprachzentren auf Französisch umpolen, als Eric mit einem frankophonen Kollegen über weiteren kryptischen Formeln brütete. Meine Kopfschmerzen verstärkten sich. Ich hatte langsam genug.
Als Erics hochwichtige ATLAS-Sitzung anstand, führte er uns aus dem Gebäude 4 hinaus auf die Strasse. Obwohl wir uns innerhalb des CERN-Areals befanden, gab es hier tatsächlich Strassen, nach berühmten Forschern benannt, mit Verkehrszeichen, Fussgängerstreifen, Überführungen, zahlreichen Parkplätzen. Sogar Kreisel gab es.
Ich hatte viel über das CERN gelesen, und trotzdem hatte ich mir keine Vorstellung über die Dimensionen gemacht, die unglaubliche Grösse.
Das CERN, das begriff ich jetzt, war nicht einfach ein Gebäudekomplex. Es war eine Stadt. Eine Stadt mit Quartieren und Untergruppierungen, mit ganz eigenen Regeln und einer unverwechselbaren, ein wenig einschüchternden Atmosphäre.
Wir marschierten eine ganze Strecke, um eine UBS-Filiale herum – das CERN hatte eigene Bankfilialen! – über die Route Scherrer und die Route Marie Curie hin zu einem imposanten Gebäude, der Nummer 40, welche Büros der Kollaborationen CMS und ATLAS beherbergte.
Ich widersprach nicht, als Eric uns mit strengem Blick anwies, uns in der von einer kreisrunden Glaskuppel überdachten Cafeteria niederzulassen und zu warten, bis er von seinem Meeting zurückkehren würde. Es war mir ein Rätsel, wie der Mann sich nach all diesen Gesprächen noch auf den Beinen halten konnte. Mehr noch – er machte einen vitalen, animierten Eindruck, als er mit leichtem Schritt, endlich von seinen beiden lästigen Kletten befreit, davoneilte. Seine sichtbare Erleichterung, uns endlich loszuwerden, war mit Händen greifbar.
Martin, ganz Kavalier, erklärte sich bereit, mir einen Kaffee zu holen. Ich warf ihm eine dankbare Kusshand zu und liess mich zufrieden an einem freien Tischchen nieder.
Während ich auf mein Getränk wartete, holte ich ein Notizheft aus meiner Handtasche und begann, mir einige Stichworte zu den vergangenen Begegnungen zu notieren. Viel kam nicht gerade dabei heraus.
Ich studierte eben stirnrunzelnd das magere Ergebnis, als Martin sein Tablett auf der Tischplatte abstellte.
«Ich habe dir etwas Süsses mitgebracht», sagte er und nahm mir gegenüber Platz. «Zur Stärkung der Moral.»
Ich reckte den Hals und schnupperte erfreut an dem appetitlichen Tortenstück.
«Du rettest mir das Leben», stiess ich mit Inbrunst aus und versenkte dann meine Gabel tief in das Gebäck.
«Ich fürchte», meinte Martin, während er in seinem Kaffee rührte und mir amüsiert beim Futtern zusah, «Eric könnte Recht haben. Ich habe bei keiner der Begegnungen bisher auch nur den Hauch eines Verdachts gehabt. Du etwa? Was sagt dein berühmter Instinkt?»
«Fehlanzeige», mümmelte ich mit vollem Mund.
Folge 31
Ich schluckte meinen Bissen herunter und fuhr dann missmutig fort: «Keine verwertbaren Hinweise, keine Anspannung, kein ausweichendes, ärgerliches oder nervöses Verhalten bei auch nur einem dieser zahlreichen Fachkollegen, und wir haben ja eine ganze Menge von denen gesehen. Nichts. Die sind allesamt nett und zugewandt, wenn auch irgendwie absorbiert – in höheren Sphären schwebend vielleicht? Und ich hasse es», fügte ich voller Verdruss hinzu, «mir so dumm vorzukommen. Die CERN-Leute reden zwar englisch, französisch oder auch einmal deutsch miteinander, sie benutzen Wörter, die ich kenne, aber ich verstehe trotzdem nichts. Das, was von aussen nach einem normalen verbalen Austausch aussieht, ist in Wahrheit ein extrem komplexer, verschachtelter und kryptischer Fachjargon, der sich perfide als normale Sprache tarnt. Die machen das absichtlich, um uns zu demoralisieren, oder?»
«Ach, ich weiss nicht», beschwichtigte er mich. «Wenn man uns beiden dabei zuhört, wie wir einen Patienten besprechen, klingt das für Aussenstehende vielleicht auch verwirrlich.»
«Quatsch», erwiderte ich abschätzig und stützte dann resigniert den Kopf in die Hände.
«Ich glaube, wir sind auf dem Holzweg, Martin. Ich bin mir nach wie vor sicher, dass es bei diesen Vorfällen in Bern im Grunde um Erics Arbeit gehen muss – worum sonst? In der Physik generell und hier am CERN im Speziellen geht es doch um Gewaltiges – um enorme Geldsummen, um wissenschaftlichen Fortschritt, um Reputation, Macht und Ansehen, um Konkurrenz, um neue Technologien!»
Ich fuchtelte wild mit den Armen durch die Luft und wies anklagend auf das eindrückliche farbige Wandbild, das vor uns aufragte – ein Abbild des CMS-Detektors, wie ich gelesen hatte.
«Das muss doch fast zwangsläufig der Kern des Ganzen sein. Aber», frustriert liess ich meine Schultern hängen, «wir kommen nicht weiter. Kein einziger Anhaltspunkt. Nichts. Ich komme mir so unglaublich hilflos vor, so töricht und beschränkt. Ich tappe im Dunkeln.»
Ein leises Räuspern zu meiner Linken liess mich herumfahren.
«Verzeihen Sie, wenn ich mich einmische», meinte ein älterer Mann, der am Tisch neben uns bei einem Espresso einen Wust an Papieren studiert hatte. «Aber ich habe unbeabsichtigt Teile Ihres Gesprächs mitgehört. Kann ich Ihnen vielleicht helfen? Ich arbeite schon viele Jahre hier und kenne mich am CERN recht gut aus.»
Ich musterte unseren Tischnachbarn unauffällig. Ich schätzte ihn auf vielleicht Ende sechzig, Anfang siebzig. Ein liebenswürdiger, bescheiden wirkender Mann mit Brille, der mit angenehmer Stimme berndeutsch sprach. Niemand, der sich in den Vordergrund drängen würde. Unverdächtig, sympathisch.
«Sind Sie ein Physiker?», fragte ich.
Er neigte den Kopf. «Experimentalphysiker, ja.»
Rasch wechselte ich einen Blick mit Martin. Der nickte kaum merklich.
«Das wäre sehr nett, Herr …»
Er lächelte: «Jenni.»
Ich streckte ihm die Hand entgegen.
«Kassandra Bergen», erwiderte ich und schüttelte herzlich seine Rechte. «Und das hier ist Martin Rychener. Wir warten auf einen Freund, der als theoretischer Physiker am CERN arbeitet – er ist gerade an einem Meeting. Er hat uns freundlicherweise herumgeführt, uns die Anlagen gezeigt. Faszinierend», schloss ich enthusiastisch.
«Sind Sie vom Fach?», fragte Herr Jenni höflich.
«Gute Güte, nein», wehrte ich entgeistert ab. «Wir sind Psychiater, alle beide. Und», ich beugte mich vertraulich vor, «zudem sind wir Buchautoren und recherchieren gerade für einen Krimi, der im Wissenschaftsmilieu spielen soll.»
Herr Jenni hob interessiert die Augenbrauen, was mich begeisterte – nach all der höflichen Zerstreutheit, die wir an Erics Fachkollegen bislang bemerkt hatten, war es erfrischend, auf jemanden zu stossen, der ernsthaft wissen wollte, was Martin und ich hier trieben.
«Was für Bücher haben Sie denn bisher geschrieben?»
Ich hüstelte angelegentlich. «Leider noch gar keine – die klinische Arbeit, verstehen Sie, sie nimmt uns dermassen in Anspruch. Es ist wahnsinnig schwierig, genug Zeit für kreative Projekte zu finden. Aber jetzt gehen wir dahinter, nicht wahr? Dafür sind wir ja hier – zum Recherchieren, nicht wahr?»
Ich blickte Martin auffordernd an, und der nickte gehorsam.
«Ah», sagte Herr Jenni nur.
Ich hatte das ungute Gefühl, in den intelligenten Augen hinter den Brillengläsern etwas aufblitzen zu sehen. Durchschaute er die Schwindelei? Oder nahm er uns unsere Geschichte ab? Wieviel von unserem Gespräch hatte er mitangehört? Und wieviel davon verstanden und richtig eingeordnet?
«Und in welche Richtung recherchieren Sie?»
Täuschte ich mich, oder lag in seinen Worten ein Hauch Ironie, verborgen hinter der Freundlichkeit?
«Unsere Handlungsskizze», schaltete Martin sich ein, «sieht vor, dass ein theoretischer Physiker sich mit kriminellen Machenschaften konfrontiert sieht. Es geht um Geld, Reputation, Konkurrenz, Ruhm, um den Missbrauch von Forschungsergebnissen. Wir benötigen nun eine solide Wissensgrundlage, um die Zusammenhänge richtig darzustellen. Deshalb möchten wir natürlich von den Experten wissen, wo innerhalb des Fachgebiets solche Machenschaften überhaupt denkbar wären.»
Herr Jenni sah mich verblüfft an. «Kriminalität? Am CERN?»
Ich zuckte mit den Achseln. «Oder generell irgendwo im Wirkungsfeld der Physik.»
Folge 32
Jenni rieb sich nachdenklich den Nacken. «Das ist nicht so einfach. Vielleicht», meinte er zweifelnd, «jemand von der Administration, der in der Buchhaltung betrügt? Am CERN arbeiten ja bei weiten nicht nur Wissenschaftler, sondern auch ganz viele andere Berufsgruppen. Und immerhin geht es um gewaltige Geldsummen und äusserst komplexe, verschachtelte Transaktionen. So etwas wäre natürlich theoretisch immer vorstellbar.»
«Ja, schon», drängte ich. «Aber unter den Physikern selbst? Oder den Technikern und Ingenieuren? Gäbe es da gute Gründe, warum jemand kriminell werden könnte? Wegen Geld vielleicht?»
Herr Jenni schien ernsthaft ratlos. «Geld? Wie meinen Sie das?»
Ich kämpfte mit meiner Ungeduld. Das Konzept von Geld, von Noten und Münzen, von Soll und Haben konnte doch diesen Wissenschaftlern nicht allesamt fremd sein, oder?
«Wir Krimiautoren», lächelte ich charmant, «halten uns an ein grundsätzliches Motto: Folge dem Geld. Und wenn man sich am CERN so umschaut», ich machte eine Geste, die den ganzen hohen Raum in seiner aussergewöhnlichen Bauweise umfasste, «dann muss hier eine ganz beträchtliche Menge Geld fliessen. Könnte niemand versucht sein, sich zu bereichern, seinen Vorteil zu suchen?»
Herr Jenni bemühte sich, das war offensichtlich. Ein wenig verzweifelt meinte er: «Aber wie sollte ein einzelner Mensch das denn machen? Natürlich fliesst hier sehr viel Geld, aber nicht in die Taschen Einzelner. Es geht darum, Apparate und Projekte zu finanzieren, die Löhne der Angestellten zu decken, damit wir weiterforschen, weiterexperimentieren können. Das CERN, müssen Sie wissen, ist nicht dafür gedacht, finanziell einträglich zu sein. Es geht weder um Gewinn noch Rentabilität. Das CERN steht für die wissenschaftliche Neugier, das Entdecken. Und die Resultate, die hier gefunden werden, stehen allen Kollaborationspartnern offen zur Verfügung, diese können überall auf der Welt unsere Rohdaten einsehen, auswerten und analysieren. Es ist dem CERN ausserdem ein Anliegen, dass unsere physikalischen Resultate in Fachzeitschriften mit open access veröffentlicht werden, so dass auch finanziell weniger Begüterte Zugang dazu erhalten, nicht nur solche, die sich teure Fachzeitschriften leisten können. Und je nach Niveau der Adressaten aufbereitete Daten werden mit einer gewissen Verzögerung breit öffentlich zur Verfügung gestellt, zum Beispiel für Hochschulen. Wir verstecken nichts.»
«Wir Ärzte», erklärte Martin, «stehen fortwährend unter hohem finanziellem Druck von Seiten der Kostenträger, also mehrheitlich der Krankenversicherungen, aber auch von Seiten der Politik. Wir müssen uns permanent für unsere Arbeit rechtfertigen und sollten überall sparen. Ist das bei Ihnen nicht so?»
Herr Jenni furchte die Stirn. «Ich könnte nicht behaupten, dass wir völlig von solchen Sorgen verschont wären, aber im Vergleich mit anderen Bereichen – mit Ihrem zum Beispiel, wie es scheint – dürfen wir zufrieden sein. Die Jahresbeiträge der Mitgliedstaaten, auf denen ein Grossteil der CERN-Finanzierung ruht, fliessen trotz der schwierigen Zeiten weiter – es steigert die Reputation einer Nation, wenn sie beim CERN mitmacht; das CERN ist so angesehen, dass es sogar einen Beobachterposten an der UNO hat. Das motiviert die Länder natürlich, dabeizubleiben. Und die entsprechenden Abkommen sind langfristig angelegt, das gibt viel Sicherheit in der Planung. Die Kollaborationen – die Projekte beziehungsweise Experimente, wie zum Beispiel ATLAS – sind noch einmal anderweitig finanziert. Die ganze Geldgeschichte ist hochkomplex, aber dafür breitbasig und stabil abgestützt.»
«Okay, also stehen Sie finanziell nicht ausgesprochen unter Druck», subsummierte Martin. «Aber doch geht es um Grosses, um gewaltige Entdeckungen von globaler Bedeutung, die für die Industrie hochrelevant sein könnten. Die Erkenntnisse der Physik haben in der Vergangenheit regelmässig zu gewaltigen Durchbrüchen in Sachen technischem Fortschritt geführt, und heute, wenn ich das richtig verstehe, haben viele Forscher das Gefühl, dass ein weiterer Erkenntnissprung anstehen könnte, eine ganz neue Physik, ein völlig neues Verständnis. Scharrt die Industrie da nicht mit den Füssen?»
Herr Jenni lächelte milde. «Sie haben schon Recht, was den technischen Fortschritt angeht – aber Sie lassen dabei einen ganz zentralen Aspekt ausser Acht: die Zeit. Den nächsten grossen Sprung, wie Sie es nennen, erwartet und ersehnt man schon seit Jahrzehnten. Und sogar wenn er passieren würde, hier und heute – der Weg vom theoretischen Resultat zur allfällig praktischen Anwendung im Sinne eines technischen Fortschritts ist lang, viele Jahrzehnte lang. Wir denken hier in anderen Zeiträumen, als Sie es sich womöglich gewohnt sind. Es hat 25 Jahre gedauert, den LHC zu bauen – 25 Jahre. Und wir planen heute schon die nächste Generation von Beschleunigern, von Experimenten. Unser Blick in die Zukunft erstreckt sich über Jahrzehnte. Wir haben Geduld.»
«Aber ein Krimineller», fügte ich nachdenklich hinzu, «hat diese Geduld nicht. Gier funktioniert nicht auf Jahrzehnte hinaus. Gier will alles jetzt, sofort, und viel davon, richtig? Sie will keine Hoffnung, keine Optionen, keine Wahrscheinlichkeiten. Gier ist etwas sehr Konkretes.»
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Er nickte freundlich. «Das CERN ermöglicht durchaus technischen Fortschritt, wissen Sie – aber weniger über die Erkenntnisse, die wir gewinnen, als vielmehr wegen der immensen Apparaturen, die für unsere Arbeit überhaupt nötig sind. Diese Anlagen müssen entworfen, getestet und produziert werden, hier werfen sich ganze Staaten in die Bresche, investieren Forschungsgelder und eigene Mittel, um Bestandteile zu bauen. Dabei entsteht Fortschritt, ein Zuwachs von Wissen und Können. Als Frucht harter Arbeit. Und harte Arbeit, so sagt man, erfreut sich unter Kriminellen geringer Beliebtheit.»
«In Ordnung, ich habe es begriffen», sagte ich grimmig. «Niemand schleicht um ihre Detektoren, in der Hoffnung, sich ein Resultat schnappen und damit rasch viel Geld machen zu können. Aber wie steht es mit Reputation, mit Ruhm und Ehre? Ich meine, hier wimmelt es von Physikern, von Professoren. Sind nicht viele davon Narzissten, Diven, die es sich gewohnt sind, Recht zu haben, ihren Willen zu bekommen? Ich könnte mir vorstellen, dass im Kampf darum, als Erster die eine grosse neue Theorie zu finden, durchaus mit harten Bandagen gekämpft wird. Oder stimmt das auch nicht?»
Herr Jenni lachte. «Doch, Diven gibt es hier durchaus, und so eine Kollaboration gleicht bisweilen einer Tüte Mücken – viel Gewimmel, viel Gesumme, schwer zu organisieren. Die Konkurrenz, der Kampf um Ruhm und Ansehen – all das existiert hier natürlich auch. Wir sind Menschen wie alle anderen auch. Aber seltsamerweise», er beugte sich ein wenig vor, «funktioniert die Zusammenarbeit von so vielen unterschiedlichen Menschen im CERN ausgezeichnet. Es ist im Grunde ein Rätsel, wie das möglich ist, immer schon möglich war – während des kalten Kriegs war das CERN der einzige Ort auf der Welt, an dem sowjetische und westliche Wissenschaftler direkt zusammenarbeiteten. Heute arbeiten hier Tausende von Menschen, die sich in Nationalität, Alter, Berufszugehörigkeit, Religion und politischer Weltanschauung massgeblich unterscheiden. Und doch geht es, und doch finden wir uns, irgendwie. Die Kooperation, das Familiäre und Verbindende zwischen Wissenschaftlern aus allen Nationen ist tatsächlich etwas Besonderes. Es werden sogar Experten für Management ans CERN geschickt, um zu untersuchen, wie sich dieser Haufen Wissenschaftler aus aller Herren Länder organisieren kann – es ist wie gesagt nicht ganz einfach, aber es ist kein Chaos, es funktioniert, und es ist ein Modell dafür, wie es gelingen kann, dass so unterschiedliche Menschen kooperieren.»
Ich verzog ungläubig das Gesicht. «Das klingt beinahe kitschig.»
«Nicht wahr?» Er zwinkerte. «Und wie gesagt: Keine Ahnung, warum es klappt. Aber das tut es. Vielleicht», er strich sich über das Kinn, «geht das in Richtung Schwarmintelligenz? Die geteilte Motivation und das gemeinsame Ziel, die grösser sind als das Konkurrenzdenken, das Wissen darum, dass wir es nur gemeinsam, in der Gruppe schaffen können – allein bringt das niemand zustande. Früher gab es schon üble Primadonnen unter den Physikern, ja. Aber heute, da die Projekte immer grösser werden und mehr und mehr Leute involviert sind, kann nur noch einen höheren Rang und eine Führungsposition erreichen, wer sich auf Kooperation versteht. So entsteht eine gewisse Selektion in die richtige Richtung.»
Herr Jenni blickte auf seine Armbanduhr. «Oh, Himmel, so spät? Ich muss an ein Meeting.»
Er raffte seine Dokumente zu einem unordentlichen Haufen zusammen.
«Ich hoffe, ich konnte Ihnen für Ihren Krimi», er zwinkerte wieder, diesmal unmissverständlich ironisch, «ein wenig helfen.» Er stand auf, wandte sich zum Gehen, hielt dann aber noch einmal inne.
«Das hier», sagte er mit Blick auf die sich in Grüppchen und Gruppen unterhaltenden, debattierenden, disputierenden Menschen rundum, «ist es, was das CERN ausmacht. Viele denken primär an die Beschleuniger und Detektoren, an die Technik, die Apparate, die riesigen Dimensionen. Aber das CERN besteht vor allem aus Menschen. Der Austausch, die geteilten Ideen, die gemeinsam entwickelten Projekte, all das macht den Geist hier aus. Es ist ein Privileg, ein Cernois zu sein. Und das Wissen um diesen Umstand, so denke ich, verbindet uns alle.»
Er lächelte uns freundlich zu, neigte zum Abschied den Kopf und eilte dann davon.
«Der hat uns kein Wort von unserer Tarnung geglaubt, wetten?», murmelte ich missmutig.
«Definitiv nicht», erwiderte Martin grinsend. «Und er hat jede unserer Ideen treffsicher demontiert. Wir stehen wieder ganz am Anfang. Oder, um es noch deutlicher zu sagen: Wir stehen im Wald und finden keinen Weg hinaus.»
«Was war das denn?» Eine ungeduldige Männerstimme.
Ich wandte den Kopf – Eric Dubach war zurück, unbemerkt war er an unseren Tisch getreten und blickte stirnrunzelnd der sich entfernenden Gestalt unseres hilfsbereiten Experimentalphysikers nach.
«Ein Herr Jenni», erklärte ich munter. «Ein wirklich netter älterer Herr. Weiss erstaunlich viel über das CERN und war bereit, uns ein bisschen was zu erzählen.»
Eric sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. «Weiss erstaunlich viel über das CERN? Ist euch klar, wer das war? Peter Jenni. Seines Zeichens einer der Gründerväter des ATLAS-Experiments. Er war viele Jahre lang Spokesperson der Kollaboration, also Projektleiter – eine gewaltige Aufgabe und hochdotiert. Ist für ATLAS auf dem halben Globus rumgereist. Einer der Grossen hier. Und ihr denkt, er sei ein netter älterer Herr? Meine Güte.»
Folge 34
Ich wollte ihm eben eine gepfefferte Antwort geben, als der Klingelton von Erics Mobiltelefon erklang. Eric fischte eilig in seiner Hosentasche nach dem Gerät und nahm den Anruf an, sich halb von uns abwendend.
«Spokesperson? Allerhand», meinte Martin leise. «Wer hätte das gedacht. Und wir merken natürlich wieder gar nichts. Jetzt komme ich mir noch dümmer vor. Wenn das überhaupt noch möglich ist.»
«Wie hätten wir das ahnen können?», fauchte ich halblaut, um den mit grimmigem Gesichtsausdruck telefonierenden Eric nicht zu stören. «Einen Mann von diesem Format stellt man sich doch deutlich pompöser und selbstgerechter vor.»
«So viel zu den Diven», meinte Martin nur. «Der war mal ganz sicher keine.»
«Aber umso gewichtiger scheint mir, was er uns berichtet hat, nun, da wir wissen, wer er ist. Unser Globalverdacht gegen das Feld der Physiker hat sich trotz all unserer Investitionen nicht erhärtet, Martin, im Gegenteil – er kommt mir immer fadenscheiniger vor. Aber was nun? Wie machen wir weiter? Hast du eine Idee?»
Eric enthob Martin von der Pflicht, mir eine sinnvolle und zieldienliche Antwort geben zu müssen. Mit finsterem Blick schob er sein Telefon wieder in die Hosentasche.
«Das war meine Mutter», sagte er knapp. «Sie hat eben einen seltsamen Anruf erhalten – vorgeblich eine Telefonumfrage von einer Sicherheitsfirma. Eine besonders liebenswürdige und angenehme junge Frau, hat sie gesagt, die sich freundlich mit ihr über die Gefahren des modernen Grossstadtlebens unterhalten hat, über die zunehmende Kriminalität. Und die dann, je länger das Gespräch dauerte, immer konkreter wurde. Wie denn meine Mutter sicherstelle, dass ihr Schmuck und Wertsachen nicht gestohlen werden könnten? Ob Sie ein spezielles Versteck habe, oder ob sie sie in einem Bankschliessfach aufbewahren würde?»
Ich spürte, wie mein Mund aufklappte. «Wie bitte? So eine Dreistigkeit!»
«Das kann doch nicht wahr sein», stiess Martin hervor. «Was hat deine Mutter ihr gesagt?»
Erics Blick verfinsterte sie noch mehr. «Du kennst meine Mutter, Martin, ja? Sie mag zerbrechlich und hilflos wirken, aber das täuscht. Sie kann ganz schön grantig werden, wenn man ihr blöd kommt. Statt sich mit einer Ausrede aus der Affäre zu ziehen, hat sie die Anruferin direkt konfrontiert. Ob diese glaube, dass sie meine Mutter für dumm verkaufen könne? Ob sie wirklich hoffe, so leicht an Information zu kommen? Ob sie allenfalls sogar diejenige sei, die hinter den seltsamen Vorfällen stecke? Ob sie selbst kriminelle Pläne im Sinn habe? Was sie denn die ganze Zeit suche? Da habe die Anruferin wortlos aufgehängt.»
Eine Zeitlang herrschte Schweigen. «Das war», sagte ich schliesslich vorsichtig, «womöglich ein wenig voreilig. Falls diese Frau tatsächlich hinter den Vorfällen bei euch zuhause steckt, oder doch zumindest mit von der Partie ist, dann weiss sie jetzt, dass wir ihr auf die Schliche gekommen sind. Dass sie nicht mehr unentdeckt agiert. Das kann gut sein oder auch schlecht. Ich habe ehrlicherweise ein etwas mulmiges Gefühl dabei.»
«Und wir», grollte Eric, «hängen hier am CERN herum, während meine Mutter zu Hause unter Beschuss gerät. So eine Idiotie! Ich habe es euch von Anfang an gesagt – es geht nicht um mich! Glaubt ihr mir jetzt endlich?»
«Es könnte natürlich auch nur das gewesen sein – eine telefonische Umfrage», gab Martin zu bedenken.
Er sah nicht aus, als ob er selbst daran glaubte.
«Wir fahren zurück», entschied ich. «Womöglich hattest du die ganze Zeit Recht, Eric, und die Physik war eine Sackgasse. Wir müssen noch einmal ganz von vorne anfangen, alles grundlegend überdenken. Das ist eine ganz neue Entwicklung. Wonach hat die Anruferin gefragt? Schmuck und Wertsachen. Hmm…»
Seufzend holte ich mein Handy hervor. «Schauen wir, wann der nächste Zug zurück nach Bern fährt. Wir sind hier fertig.»
Kapitel 10
Es dauerte zwei Tage, ehe ich mich wieder mit dem Fall Dubach beschäftigen konnte. Schliesslich, so hielt ich mir vor Augen, musste ich pragmatisch bleiben – ich konnte für meinen heimlichen Ermittlerjob nicht grenzenlos viel Zeit erübrigen, besonders nicht, wenn ich Marc und unseren Töchtern Sand in die Augen streuen und unterhalb des Radars fliegen wollte. Ich hatte eine Familie zu versorgen, ich wurde gebraucht, und ich hatte ein Image zu wahren. Die Rolle der entspannten Mutter und friedfertigen Ehefrau war anstrengender, als ich vermutet hätte. Und auch wenn ich in der Klinik mehr als genug Überzeit hatte, die kompensiert werden wollte, tat ich mir doch keinen Gefallen, wenn sich andernorts zu viele Aufgaben stauten.
Am Freitag indes war es so weit. Martin, Eric und ich hatten auf den späteren Nachmittag hin ein neuerliches Treffen bei Anna Dubach vereinbart. Wir wollten die Lage besprechen, ganz neu anfangen. Wie auch immer wir das anstellen würden.
Mit ausdrücklicher Billigung des leitenden Arztes – ich hatte Martin unter acerbischem Verweis auf mein Überzeitkonto keine Wahl gelassen – verliess ich die Klinik bereits um drei Uhr. Mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern marschierte ich durch matschig-kalten Schneeregen zu meinem Auto.
Es dauerte eine ganze Weile, bis die Klimaanlage so weit hochgefahren war, dass das Gebläse die angelaufenen Scheiben freipusten und ich endlich losfahren konnte.
Folge 35
Ich war dankbar, dass der Verkehr auf der Autobahn und in der Stadt sich einigermassen in Grenzen hielt. Feuchter Schnee peitschte durch die Luft, die Sicht war schlecht, die Fahrbahn rutschig.
Wie gewohnt dauerte es eine ganze Weile, ehe ich in einer Seitenstrasse einige Gehminuten von Anna Dubachs Wohnung einen Parkplatz fand, der gross genug war, um meine begrenzten Fähigkeiten im Seitwärts-Einparkieren nicht zu überfordern. Dass es wegen des Schmuddelwetters keine neugierigen Zuschauer hatte, die Maulaffen hätten feilhalten können, als ich mich unter ungelenkem Manövrieren in die Parklücke zwängte, war ein deutliches Plus.
Als ich im Dubachschen Hauseingang angekommen war, warf ich einen raschen Blick auf die Uhr. Erst zwanzig vor vier – ich war zu früh. Ich kniff die Augen zusammen, um mich gegen den kalten Winterwind zu schützen, und drückte mit klammen Fingern auf den Klingelknopf zu Annas Wohnung.
Nichts.
Ich drückte erneut, zunehmend ungeduldig – es war wirklich ungemütlich hier draussen. Wo war Frau Dubach? War sie noch einkaufen gegangen?
Als mein Klingeln auch nach einer halben Minute unbeantwortet blieb, betätigte ich entschlossen die Klingel von Anna Dubachs Nachbarin – Frau Sollberger würde sich vielleicht erbarmen und mich ins Treppenhaus lassen.
Ein Knacken in der Gegensprechanlage.
«Ja?» Die Stimme der Nachbarin klang ängstlich, gepresst.
«Frau Sollberger?», sagte ich in betont freundlichem, beruhigendem Tonfall. «Mein Name ist Kassandra Bergen, ich bin eine Bekannte von Anna Dubach. Ich wollte…»
«Rasch!», stiess die angsterfüllte Stimme hervor. «In Anna Dubachs Wohnung ist ganz komischer Lärm. Ich habe Angst – kommen Sie schnell!»
Der Türöffner summte. Ein, zwei Herzschläge lang starrte ich noch auf die Gegensprechanlage, mit offenem Mund, unfähig, mich zu rühren. Dann kam Bewegung in mich. Ich stiess die Tür auf und rannte die Treppe hoch.
Ich bewältigte die beiden Stockwerke in einem Tempo, das ich mir nicht zugetraut hätte. Als ich atemlos auf dem Treppenabsatz vor Anna Dubachs Wohnung ankam, stand eine ältere Dame in Kittelschürze schon händeringend und mit besorgtem Blick da.
«Gut, dass Sie da sind!», hauchte sie. «Sie müssen etwas tun!»
«Was ist denn los?», japste ich, nach Luft ringend, und stützte mich beidhändig auf meinen Knien auf.
Frau Sollberger verzichtete auf eine Antwort, denn exakt in dem Augenblick brach jenseits der Dubachschen Wohnungstür die Hölle los – ich hörte Anna Dubach um Hilfe schreien, hörte die Geräusche von Zusammenstössen und Handgemenge und einen unterdrückten Wutschrei, der definitiv nicht von Anna kam. Eine Männerstimme.
«Rufen Sie die Polizei!», befahl ich Frau Sollberger knapp.
Und dann, noch ehe ich mir weitergehende Gedanken darüber machen konnte, ob ich das Richtige tat, griff ich nach der Türklinke.
Die Tür war unverschlossen. Ich stolperte in den Eingangsbereich hinein, verschaffte mir hektisch einen Überblick.
Anna Dubach, auf den Knien, sich mit den Armen über dem Kopf schützend, über ihr eine Gestalt mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze, ein kräftiger, grossgewachsener Mann, der sich brüllend übers Gesicht wischte und mit einer Hand grob an Annas Haaren riss.
«Schluss jetzt!», brüllte ich mit maximaler Lautstärke. «Lassen Sie sie los, verdammt nochmal!»
Die Gestalt fuhr herum. Ich schrak zurück – der Mann hatte kein Gesicht. Dann fasste ich mich – er trug eine Sturmmütze unter seiner Kapuze. Tränende helle Augen blinzelten mich bösartig an.
Der Mann duckte sich, setzte zum Sprung an. Verzweifelt blickte ich um mich, suchte nach etwas, was ich als Waffe benutzen konnte. Fand nichts.
Und dann – ein lautes, metallisches Scheppern. Schmerzensgeheul des Mannes. Anna Dubach, noch immer auf den Knien, hatte sich einen Schirmständer aus Kupfer gegriffen und ihn dem Mann beherzt vor die Schienbeine gehauen.
Der Mann taumelte rückwärts. Ich preschte vor, blindlings, um Anna vor dem drohenden Vergeltungsschlag zu bewahren.
«Verschwinden Sie gefälligst!», kreischte ich, und stürzte mit ausgestreckten Fingernägeln wie eine angreifende Harpyie auf den Mann zu.
«Ich habe die Polizei gerufen!», brüllte Frau Sollberger vom Treppenhaus her, aus sicherer Deckung offenbar, aber durchdringend laut. «Sie werden jeden Moment hier sein!»
Das, so schien es, genügte, um dem Angreifer vor Augen zu führen, dass ein weiteres Verweilen sich nicht zu seinem Vorteil ausgewirkt hätte.
Mit einem einzigen, blitzschnellen Stoss mit dem Ellbogen traf er mich an der Seite meines Gesichts, und ich ging zu Boden wie ein gefällter Baum. Mein Hinterkopf schlug auf dem Fussboden auf, meine Sicht verschwamm, Sterne blitzten vor meinem Gesichtsfeld auf, und ich hörte wie durch Watte weiteres Brüllen vom Treppenhaus her, dann das Geräusch schneller, verklingender Tritte.
Mir wurde schwarz vor Augen. Mit Mühe schaffte ich es, mich ans Bewusstsein zu klammern, zu verhindern, dass ich abglitt in den Strudel, der mich in bodenlose Tiefe ziehen wollte.
«Ist … ist er weg?», hörte ich mich tonlos keuchen.
«Ja.» Das war Anna Dubach, und ihre Stimme klang erstaunlich fest. «Er ist weg. Versuchen Sie nicht aufzustehen, geben Sie sich einen Moment Zeit. Warten Sie, ich hole Ihnen ein Kissen.»
Folge 36
Eine halbe Stunde später war die Wohnung voller Menschen. Martin, der zehn Minuten nach mir eingetroffen war, sass an meiner Seite am Küchentisch und tätschelte mir immer wieder unbeholfen die Schulter, während ich missmutig eine Packung tiefgekühlter Erbsen gegen mein rechtes Jochbein drückte. Dort, wo der Ellbogen des Angreifers mich getroffen hatte, bildete sich ein Hämatom von der Grösse Grönlands. Es pochte schmerzhaft, und die Schwellung war beträchtlich. Mein Schädel brummte.
Wir hörten die Stimmen von Anna und Eric aus dem Wohnzimmer. Sie sprachen mit den beiden Polizeibeamten, einer jungen Frau, die das Gespräch führte, und einem älteren Mann. Anna Dubachs Stimme klang ruhig und gefasst zu mir herüber.
«Ich glaube das einfach nicht», grummelte ich. «Ich dachte, ich müsse Frau Dubach retten, sie, die hilflose alte Frau. Stattdessen werde ich ausgeknockt, und wenn Anna Dubach, fünfundsiebzig, dem Kerl nicht eins mit diesem Schirmständer verpasst hätte, wer weiss, wie es ausgegangen wäre. Jetzt sitze ich hier mit meiner gewaltigen Beule, kühle mir das Gesicht und tue mir leid, während Anna rasch ihre Frisur gerichtet hat und nun bereits wieder beherrscht und gemessen Auskunft gibt. Ich fühle mich gerade wie eine komplette Memme.»
Martin grinste. «Anna ist schon aus hartem Holz geschnitzt. Du warst ja am Anfang noch ziemlich benommen und hast womöglich nicht alles mitgekriegt, was sie erzählt hat. Der Kerl habe sich via Gegensprechanlage als Paketbote ausgegeben. Sie hat ihn reingelassen, und als sie ihm dann die Wohnungstür geöffnet hat, habe er sie unvermittelt angesprungen und zurück in die Wohnung gestossen. Er drängte sie offenbar brutal an eine Wand, redete harsch auf sie ein und bedrohte sie, aber Anna griff sich mit der Linken geistesgegenwärtig die Haarspray-Dose auf dem Tischchen neben dem grossen Garderobenspiegel und sprühte ihm eine volle Ladung in die Augen. ‹Mein treues Elnett hat mir schon manches Mal aus der Patsche geholfen, wenn meine Haare nicht so recht wollten, aber so nützlich wie heute war es noch nie›, hat sie lapidar gemeint.»
Ich lachte leise auf. «Die Frau hat Stil. Beeindruckend.»
Dann erhob ich mich mühsam. Meine Beine zitterten.
Martin schoss hoch und griff fürsorglich nach meinem Ellbogen. «Geht es?»
«Wenn eine Frau Mitte siebzig einen vitalen Angreifer mit Elnett und Schirmständer bekämpfen kann, dann wird eine Kassandra Bergen wohl in der Lage sein, sich selbständig aufrecht zu halten», sagte ich mit Würde, löste dezidiert seine Hand von meinem Arm und ging, wenn auch leicht wackelig, nach nebenan, ins Wohnzimmer.
Dort nickte ich den Polizisten, die rasch aufgeblickt hatten, zu und lehnte mich dann gegen eine Wand.
«Und Sie können wirklich nicht sagen, ob Sie den Mann nicht schon irgendwo einmal gesehen hatten?», fragte die junge Frau Anna gerade einfühlsam.
Anna Dubach schüttelte den Kopf. «Er war maskiert, wie gesagt. Ich habe nur die Augen gesehen – hellblau, würde ich sagen, aber schlussendlich haben so viele Leute blaue Augen, nicht wahr? Er war recht gross und kräftig. Aber mehr kann ich nicht sagen.»
«Ist Ihnen noch etwas aufgefallen, Frau Bergen?», wandte sich die Polizistin nun an mich.
Ich zuckte mit den Schultern. «Er trug Jeans, eine dunkle Kapuzenjacke und eine schwarze Sturmmütze aus Strickmaterial. Turnschuhe, wenn ich mich nicht täusche – vielleicht von Adidas? Sie waren hell, weiss oder hellgrau. Keine besonderen Kennzeichen. Nichts, woran ich ihn wiedererkennen würde.»
Die junge Beamtin nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. «Und Sie können nicht mit Gewissheit sagen, ob der Angreifer heute der gleiche Mann ist wie der, von dem Sie sich damals im Tram verfolgt gefühlt haben, Frau Dubach?», vergewisserte sie sich.
«Er müsste es fast gewesen sein. Auch der junge Mann im Tram damals trug eine dunkle Kapuze. Aber der kam mir ehrlich gesagt etwas schlanker vor, von weniger bulligem Körperbau. Eher geschmeidig, schlaksig. Vielleicht täusche ich mich. Meine Augen sind nicht mehr, was sie einmal waren, und ich hatte heute ja nicht Gelegenheit, mir den Angreifer in Ruhe anzusehen, es ging alles so schnell. Aber es ist nicht zu erwarten, dass gleich zwei verschiedene junge Männer in Kapuzenjacken mir nachstellen, oder?»
«Ich habe», meldete Eric sich zu Wort, «ja auch einmal eine verdächtige Gestalt mit Kapuze im Treppenhaus gesehen. Die hätte ich damals auch eher als schlaksig beschrieben, nicht kräftig.»
«Der heute», gab ich trocken zu Protokoll, «war kräftig.»
Ich deutete angelegentlich auf die Beule in meinem Gesicht. Die junge Polizistin lächelte mitfühlend. «Sie sollten das noch einem Arzt zeigen, wissen Sie?»
«Keine Sorge», erwiderte ich. «Ich bin selbst Ärztin, ebenso Herr Rychener hier. Er hat mich schon untersucht und keine Hinweise auf knöcherne Läsionen oder Nervenverletzungen gefunden. Aber beim geringsten Zweifel lasse ich meinen Schädel noch röntgen, versprochen.»
Sie nickte zufrieden. Dann studierte sie ihre Notizen. «Und Sie wissen wirklich nicht, was der Mann von Ihnen gewollt haben könnte?», fragte sie Anna.
Die zuckte mit den Achseln. «Ich habe nicht die geringste Ahnung.»
«Habe ich Sie richtig verstanden? Der Mann habe gerufen ‹Wo ist er? Gib ihn mir endlich›, richtig?»
«Ganz genau», bestätigte Anna. «Und Sie können sich nicht vorstellen, was er damit gemeint haben könnte?» Mit zusammengepressten Lippen schüttelte Anna Dubach den Kopf. «Ich wünschte, ich könnte es.»
Folge 37
Nach einer weiteren halben Stunde waren die Polizisten aufgebrochen.
Sie hatten sich Mühe gegeben, das war offensichtlich, sie hatten sich alles wieder und wieder erzählen lassen, hatten jedes Detail erfragt. Sie würden, so hatten sie versprochen, die Nachbarn befragen und einen Zeugenaufruf machen. Vielleicht konnte jemand zufällig Anhaltspunkte vermitteln, vielleicht hatte jemand den jungen Mann ohne Maske aus dem Haus stürmen sehen.
Dass die Hoffnung gering war, den Angreifer zu identifizieren und zu fassen, hatten sie nicht gesagt. Es war auch nicht nötig. Wir alle wussten, wie dürftig die Faktenlage war. Der Angreifer, so stand zu befürchten, würde unbehelligt wieder in den Schatten verschwinden, aus dem er gekommen war.
Anna Dubach sass noch immer auf ihrem sandfarbenen Sofa. Sie hielt sich sehr aufrecht, und in ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von grimmiger Sturheit. Der Vorfall, da machte ich mir keine Illusionen, hatte sie erschüttert. Aber sie war nicht bereit, sich kleinkriegen zu lassen. Ich setzte mich neben sie. Impulsiv ergriff ich ihre Hand.
«Anna», sagte ich. «Darf ich Anna sagen?»
Sie wandte mir den Kopf zu. «Natürlich, Kassandra.»
Ich verzichtete darauf, sie darauf hinzuweisen, dass niemand ausser Martin Rychener mich bei meinem verhassten vollen Vornamen nennen durfte. Anna Dubach, so entschied ich, hatte diese Ausnahme verdient.
Sanft drückte ich ihre Finger. «Du warst sehr tapfer, Anna. Du hast unglaublich rasch und gewandt reagiert, und ich bewundere deine Haltung.»
Sie lachte, und es klang ein wenig zittrig. «Ich habe nichts anderes gelernt. Früher haben wir noch nicht so Gefühle gezeigt. Aber es hat mich schon mitgenommen.»
Ich nickte mitfühlend und drückte ihre Hand noch ein bisschen fester. Ihre Finger waren kühl und feingliedrig. Zerbrechlich. «Ich muss mich bei dir entschuldigen, Anna», sagte ich bewegt.
Sie blickte mich erstaunt an. «Weswegen?»
«Ich habe einen Kardinalfehler gemacht, von Anfang an. Ich hatte als Zentrum des Rätsels eine ältere Frau und einen jüngeren Mann zur Auswahl. Du gehst mit deinen Freundinnen jassen, strickst und nähst gerne und führst ein beschauliches Leben. Eric ist Physikprofessor, hat globale Kontakte und einen aktiven, vielschichtigen Alltag. Für mich», ich schluckte betreten, «stand von Anfang an zweifellos fest, dass niemand sich für dich interessieren könnte. Dass es um Eric gehen müsse. Ich, als Frau, fand es ganz selbstverständlich, dass hier unweigerlich der Mann die zentrale Figur sein müsse, der Akademiker - dass eine ganz normale Frau von Mitte siebzig unmöglich wichtig genug sein könnte, um Ziel krimineller Machenschaften zu sein. Aber ich habe mich getäuscht.»
Anna winkte ab.
«Dafür musst du dich nicht schämen», meinte sie unbeeindruckt. «Das ging mir ja ganz genauso. Und so ist es noch immer. Ich kann mir nicht vorstellen, warum irgendjemand mich angreifen sollte. Das alles ist einfach absurd.»
Ich liess ihre Hand los. «Es muss einen Grund geben. Einen sehr guten Grund, für den jemand bereit ist, zunehmende Risiken einzugehen. Wo ist er? Gib ihn mir endlich! Ich dachte zuerst, mit er sei Eric gemeint. Aber gib ihn mir! spricht dafür, dass es sich um einen Gegenstand handeln muss, etwas Kleineres, etwas, was du übergeben könntest. Denk nach, Anna. Was könnte gemeint sein?»
Entnervt stand sie auf.
«Ich gebe mir ja Mühe!», rief sie aus, die arthrotischen Hände verwerfend. «Aber ich verstehe es nicht! Es müsste etwas Wertvolles sein. Aber ich besitze nichts Wertvolles! Du hast meine Schmuckschatulle gesehen - ich habe ganz wenige Stücke von Wert, und die liegen alle nach wie vor in ihrem Behältnis. Daran ist nichts Geheimnisvolles.»
«Die Frau am Telefon vorgestern hat nach Schmuck und Wertsachen gefragt, richtig?», schaltete Martin sich ein.
Anna nickte bestätigend.
«Vielleicht geht es um etwas, was anderweitig von Wert ist?», mutmasste Martin. «Er, es handelt sich also um etwas mit einem männlichen Artikel. Der Brief? Der Vertrag? So etwas? Etwas Juristisches? Ein Dokument?»
«Vielleicht der Garantieschein für meine neue Heizdecke?», meinte Anna trocken. «Ansonsten wüsste ich nichts, was für einen Verbrecher von Interesse sein könnte. Mein Testament? Sicher nicht, ich habe ja nicht viel zu vererben, und das geht alles an Eric. Der Kaufvertrag für diese Wohnung hier? Kaum.»
«Gehen wir das Ganze mal von der anderen Seite her an, von der Motiv-Seite», schlug ich vor. «Aus was für Gründen begeht man Verbrechen?»
«Geld», sagte Martin sofort.
«Aber ich habe kein Geld!», beharrte Anna fuchsig. «Auf jeden Fall nicht die Art von Geld, die für Verbrecher interessant wäre. Meine Rente wird die nicht hinter dem Ofen hervorlocken.»
«Rache?», schlug Eric stirnrunzelnd vor.
«Um Himmels Willen!», fuhr seine Mutter ihn an. «Siehst du mich als Figur in einer griechischen Tragödie? Wer sollte sich an mir denn rächen wollen? Etwa Hanna Hugentobler, weil ich sie dauernd im Jassen schlage?»
Ich grinste.
«Information?», stellte ich in den Raum. «Wissen?» «Was meinst du damit?», fragte Eric.
Folge 38
Ich hob die Hände. «Vielleicht weiss Anna etwas, was sie gefährlich macht? Womöglich, ohne dass ihr das bewusst wäre? Wie wäre es mit ‹der Beweis›? Auch dieses Wort führt einen männlichen Artikel.»
«Ach, das ist doch alles dummes Zeug», schimpfte Anna, die nun ruhelos im Wohnzimmer auf und ab marschierte. «Ich bin sicher, das Ganze ist eine Verwechslung. Vielleicht suchen die in Wahrheit eine andere Anna Dubach und sind nur irrtümlich an mich geraten. Eine Millionenerbin womöglich, oder eine ehemalige Spionin.»
«Falls dem so wäre, wäre es ihr Pech», meinte Martin launig. «Sie wären gründlich an die Falsche geraten, so, wie du dich heute gewehrt hast.»
Ich hob den Kopf. «Ja, warum eigentlich?»
«Was meinst du damit?», wollte Eric wissen.
Ich fuchtelte mit den Händen durch die Luft. «Na, diese Reaktion. Versteh mich nicht falsch, Anna, ich bewundere dich von Herzen für deine Geistesgegenwart und Beherztheit. Aber ist es nicht etwas ungewöhnlich, dass eine Fünfundsiebzigjährige sich dermassen dezidiert zur Wehr setzen kann?»
«Willst du damit am Ende noch andeuten, dass du mich tatsächlich für eine ehemalige Spionin hältst?», meinte Anna vorwurfsvoll.
Ungeduldig winkte ich ab. «Nein, natürlich nicht. Aber wer von deinen Jasskolleginnen würde in einer ähnlichen Situation so unerschrocken und entschlossen reagieren wie du? Wer würde sich instinktiv wehren und sich dann nachher so rasch wieder sammeln? Das ist doch aussergewöhnlich.»
Anna blieb stehen. «Na, Hanna Hugentobler ganz bestimmt nicht. Die würde gleich in Ohnmacht fallen, die macht ja ständig ein Riesentheater, schon nur, wenn sie mal eine Jassrunde verliert. Ich habe früh gelernt, für mich einzustehen, hart zu sein. Als Kind auf dem Bauernhof, da musste ich zupacken, da gab es keine Wehleidigkeiten. Und dann, während der 68er Jahre …»
Sie verstummte.
Wie gebannt beobachtete ich ihr Gesicht. Sah, wie sie die Stirn runzelte, sah die Palette an Emotionen, die über ihre Züge zogen, eine nach der anderen.
Zweifel. Erstaunen. Erkenntnis. Erschrecken.
«Mutter?», setzte Eric an.
Ich brachte ihn mit einer wütenden Handbewegung zum Schweigen. Nicht jetzt. Er durfte ihren Gedankengang nicht unterbrechen.
Annas Kopf neigte sich, ihre Miene eine Maske ungläubigen Schreckens, der Blick in unendlicher Ferne verloren. Ihre Rechte flog unwillkürlich an ihren Hals. Auf ihren Wangen bildeten sich grellrote Flecken.
«Oh», sagte sie. Dann, nach langem Schweigen, noch einmal: «Oh.»
Kapitel 11
Elektrische Spannung knisterte im Raum. Wir alle starrten atemlos auf Anna. Sie schwankte. Ihre Hand flog zu ihrem Mund. «Aber das kann doch nicht … Es ist völlig unmöglich …»
Eric sprang auf. Sachte fasste er seine Mutter am Arm.
«Komm, setz dich hin», sagte er voller Besorgnis. «Du bist ja kreideweiss geworden.»
Ich war mir nicht sicher, ob Anna ihn überhaupt hörte. Mechanisch liess sie sich in einen der beiden gepolsterten Holzstühle gleiten. Ihre Hände umklammerten unwillkürlich die Armlehnen. Ihr Oberkörper, sonst so aufrecht, war vorgebeugt. Anna Dubach, das war offenkundig, war nur körperlich im Raum anwesend. Ihr Geist war ganz woanders.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ihr Blick klarer wurde, bis ihr Kopf sich hob. Dann jedoch sah sie mich direkt an, und in ihren mattblauen Augen funkelte etwas auf. Etwas Starkes, etwas Neues. «Ja», sagte sie mit klarer, scharfer Stimme. «Das könnte sein. Es scheint unglaublich, aber es könnte sein.»
Dann wandte sie sich ihrem Sohn zu. «Ich war dir immer eine gute Mutter, hoffe ich, und deinem Vater, meinem lieben Otto, eine gute Frau», setzte sie an.
«Natürlich warst du das», begann Eric, aber Anna schüttelte rasch den Kopf, und er verstummte.
«Als ich Otto kennenlernte, als er mich bat, ihn zu heiraten, und als du dann auf die Welt kamst, war mir klar, dass die Familie das Wichtigste in meinem Leben sein musste. Du weisst, ich hatte einen Beruf gelernt, ich war Lehrerin, und die Arbeit war mir immer wichtig gewesen. Aber als du ganz klein warst, in den Siebzigerjahren, war es noch nicht üblich, dass eine Mutter neben der Kindererziehung noch berufstätig war. Die wenigen Frauen, die das taten, wurden schräg angesehen. Otto hatte eine gute Stelle, er verdiente genug und hatte es nicht nötig, seine Frau arbeiten zu lassen. Ich habe das respektiert, ich wollte ihm keine Scherereien machen und blieb zuhause, zumindest bis du alt genug warst, dass ich hier und da eine Stellvertretung übernehmen konnte. Ich war, so könnte man sagen, eine brave Schweizer Frau. Nur – das ist nicht immer so gewesen. Die junge Anna Haldemann war eine ganz andere Art Mensch als später die verheiratete Anna Dubach.»
Nun breitete sich ein Lächeln über ihre Züge. «Ich bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Mir wurde immer klar gemacht, dass man den Eltern, besonders dem Vater, und den Lehrern zu gehorchen habe. Kinder durften damals noch nicht einmal reden, wenn die Erwachsenen sie nicht dazu aufforderten – das ist heute komplett anders, fast zu sehr, gute Güte! Ich wusste das, ich war so erzogen worden. Aber da war etwas in mir, das sich auflehnte. Etwas Rebellisches, Wildes. Meine Mutter hat manches Mal verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen wegen mir. ‹Kind, du bringst mich noch ins frühe Grab›, hat sie immer gerufen.»
Folge 39
Wieder lächelte Anna, erinnerungsselig. «Und dann kamen die wilden Achtundsechziger in der Schweiz an. Begonnen hat es im Tessin, mit einer Schulbesetzung als Protest gegen starre, schlechte Bedingungen im Unterricht. Dann Kundgebungen in Genf. Und dann: Zürich. Die Rockkonzerte, die Krawalle. Mich hat das alles fasziniert und angezogen. Vor allem die Frauenbewegung. Ich hatte nie eingesehen, warum ich als Frau automatisch weniger wert sein sollte als die Männer, warum ich weniger Rechte haben sollte. Als junge Lehrerin war ich an progressiven Unterrichtsmethoden interessiert, ich wollte etwas anderes als Drill und Autorität. Ich wollte meine Schüler verstehen, ich wollte sie begeistern, sie gewinnen statt unterdrücken. Aber dafür war ich von der Schulleitung immer belächelt worden, auch wenn meine Schüler ausgesprochen gute Leistungen zeigten. Ich war immer nur das Fräulein mit den neuen Ideen, niemand nahm mich ernst. Aber auf einmal merkte ich, dass es Gleichgesinnte gab. Andere Frauen, aber auch Männer, die sich für die Rechte der Frau stark machten. Für das Stimmrecht, für Eigenverantwortung, für geistige Freiheit, für neue Unterrichtsmethoden. Ich engagierte mich politisch, ich ging auf Demonstrationen. Ich trug sogar», sie lachte leise, «einen Minirock. Ich dachte, meinen Vater würde gleich der Schlag treffen, als er mich zum ersten Mal damit sah. Das gab manchen Streit zuhause! Aber mir war es gleich. Ich war volljährig, und ich hatte ein Ziel.»
Eric sah seine Mutter ungläubig an. Es war offenkundig, dass ihm all das völlig neu war.
«Ich war mit von der Partie, als am ersten März 1969 zum Marsch auf Bern gerufen wurde. Ich stand sogar ziemlich weit vorne, als Emilie Lieberherr ihre berühmte, flammende Brandrede vor dem Bundeshaus gehalten und das uneingeschränkte Stimmrecht für uns Frauen gefordert hat. Ich hatte auch eine Trillerpfeife dabei, ich war Teil des Pfeifkonzerts – wir haben damals», nun grinste sie vergnügt und wirkte dabei wieder wie eine junge Frau, «auf den Bundesrat gepfiffen, der sich weigerte, unsere Petition zu empfangen.»
«Das …», stammelte Eric. «Ich wusste nichts von alledem. Du hast nie etwas darüber erzählt.»
«Ja», sagte Anna. «Ich weiss. Ich habe es zu vergessen, zu verdrängen versucht, all die Jahre.»
Sie holte tief Luft, sammelte sichtlich ihre ganze Courage und sprach weiter. «Am Marsch auf Bern lernte ich Erich kennen. Er war zwei, drei Jahre jünger als ich. Ein sehr gut aussehender Mann, sehr attraktiv mit seiner Pilotenbrille und dem teuren Mantel. Er hat mir sofort gefallen.»
Sie errötete sachte. «Wir wurden ein Paar. Das war damals ganz ungern gesehen, dass junge Leute eine Beziehung führten, ohne verheiratet zu sein. Auch damit war Vater nicht einverstanden. Aber ich liess mich nicht beirren. Ich war so verliebt.»
Eric starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.
«Erich?», fragte er mit hohler Stimme. «Mein Vorname lautet Erich, im Grunde. So steht es in meiner Geburtsurkunde. Heisst das…»
«Oh, nein», warf Anna hastig ein. «Du bist Ottos Sohn. Erich konnte gar nicht dein Vater sein. Er», sie schluckte hörbar, «war damals, als du auf die Welt gekommen bist, schon lange tot.»
«Tot?», warf ich unwillkürlich ein.
«Wir wollten heiraten», sagte Anna traurig. «Aber den Segen unserer Väter hätten wir nicht bekommen, das wussten wir beide. Mein Vater war ganz grundsätzlich dagegen, dass ich mit einem Hippie in wilder Ehe lebe, wie er gerne sagte. Er wollte Erich gar nicht kennenlernen. Für Erichs Familie indes war ich nicht gut genug. Die Familie hatte offenbar Geld, sein Vater besass ein Hotel, und Erichs damals bereits verstorbene, innig geliebte Mutter war zu Beginn des zweiten Weltkriegs aus dem Ausland gekommen und hatte ebenfalls ein beträchtliches Vermögen in die Familie gebracht. Erich war der jüngere von zwei Söhnen, und sein Vater wünschte sich für ihn eine deutlich bessere Partie, als ich es hätte sein können. Ich habe Erichs Familie nie kennengelernt, er meine auch nicht. Trotzdem – wir beschlossen, uns über den Willen der Eltern hinwegzusetzen und auf eigene Faust zu heiraten, ohne den Segen unserer Familien. Wir hatten alles geplant, bis ins Detail. Aber auf einmal brach der Kontakt ab. Erich erschien nicht wie vereinbart zu unserem nächsten Treffen, meldete sich nicht mehr, und ich konnte ihn nicht erreichen. Ich war verzweifelt, dachte, er habe sich anders entschieden, gegen mich. Eines Nachts hatte ich dann einen grauenhaften Traum. Ich sah Erich, der in unergründliche Tiefen fiel, ich sah seinen Tod. Dieser Traum, so wenig ich als rationale junge Frau an ihn glauben wollte, erschreckte mich, versetzte mich in Panik. Ich befürchtete das Schlimmste. Dann, einige Tage später, erfuhr ich es per Zufall von einem Freund: Erich war auf einer Bergwanderung zu Tode gestürzt. Ein fataler Unfall. Er war erst einundzwanzig Jahre alt, als er starb.»
Eine Weile herrschte bedrücktes Schweigen.
Dann fuhr Anna leise fort. «Erichs Tod erschütterte mich über alle Massen. Meine ganze Welt brach zusammen. Ich hielt es nicht mehr aus in der Enge meines Umfelds, ich musste weg, weg von Bern, von den Erinnerungen. Ich nahm eine Stelle im Ausland an, im Tirol, zur Wintersaison – nichts Grossartiges, ich arbeitete als Kellnerin in einem Ausflugslokal. Aber es war weit weg von allen und allem, und es half mir, zu vergessen. Ironischerweise», sie lächelte ihren Sohn an, «lernte ich dann ausgerechnet im Tirol deinen Vater kennen – zwei Berner, die sich im Ausland trafen. Er verliebte sich sofort in mich, aber ich war noch nicht so weit. Meine Trauer war noch lange nicht vorbei. Otto musste sehr viel Geduld aufbringen, bis ich mich öffnen und ihm einen Platz in meinem Herzen freiräumen konnte. Aber er hatte ja Geduld, immer schon. Nach drei Jahren schliesslich wurde ich seine Frau. Ich habe es nie bereut. Er war ein guter Mann. Ein freundlicher, gütiger Mann. Er half mir über Erichs Verlust hinweg.»
Folge 40
Eric beugte sich vor und drückte seiner Mutter die Hand.
«Und warum», fragte ich sachte, «ist dir diese Geschichte jetzt in den Sinn gekommen?»
Anna atmete tief durch. «Einerseits wegen dem, was du vorhin gesagt hast – dass ich nicht so leicht zu erschrecken bin und für mich einstehen kann. Das habe ich damals gelernt, während der Demonstrationen und Proteste, aber auch, weil ich mich gegen meinen Vater zur Wehr setzen musste.»
Ich wartete.
«Und andererseits …?», hakte ich dann nach.
Unvermittelt stand Anna auf. «Ich zeige es euch. Vielleicht liege ich ja völlig daneben. Einen Moment.»
Angespannt warteten wir, bis Anna zurückkam.
Es dauerte nicht lange. Aber was sie in den Händen trug, erfüllte meine Erwartungen nicht im Geringsten. «Dein Wollkorb?», rief ich irritiert aus. «Was ist damit?»
Ohne zu antworten, setzte Anna sich mit dem Korb auf den Knien wieder in ihren Sessel. Sorgfältig nahm sie Wollknäuel um Wollknäuel heraus, dicke, voluminöse eierschalenfarbige Wolle, dem Etikett nach nicht neuesten Datums, die Aufschrift altmodisch, das Papier etwas angegilbt.
Anna betastete jeden Knäuel, legte ihn dann zur Seite. Beim vorletzten Knäuel hielt sie inne. «Hier», sagte sie nur und reichte ihn mir. Verständnislos betrachtete ich ihn. Die Wolle fühlte sich kratzig an. «Was soll ich damit?»
«Innen drin», meinte Anna knapp.
Ich betastete den Knäuel – richtig, ganz im Zentrum spürte ich etwas Kleines, Hartes, Unförmiges.
Hastig griff ich in den Wollknäuel hinein, bis ich das kleine Objekt zu fassen bekam. Ich zog es heraus. Ein kleines Stoffsäckchen mit einem Zugband.
Ich sah Anna fragend an. Sie nickte.
Ich öffnete das Stoffsäckchen und leerte den Inhalt in meine hohle Hand. Dann klappte mir der Mund auf.
Es war ein Ring. Ein wuchtig grosser, leuchtend blauer Stein in der Mitte, umgeben von einem Kranz von zehn kleineren reinweissen Steinen. Eine silberfarbene Fassung.
Das Ganze sah kitschig aus, pompös, viel zu gross und glitzernd und bunt, um echt zu sein.
Und doch …
Verständnislos sah ich zu Anna auf. «Was bedeutet das?»
«Erich hat mir diesen Ring geschenkt. Er hat gesagt, er solle mein Verlobungsring sein.» «Warum um alles in der Welt hast du uns nichts davon erzählt?», herrschte Eric seine Mutter an. «Wo wir dich doch wiederholt nach verborgenen Wertsachen gefragt haben!»
Anna sah aus, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
«Ich wollte den Ring damals nicht annehmen, er sah viel zu wertvoll aus, viel zu protzig, und ich fand es nicht anständig, so ein teures Geschenk zu akzeptieren. Erich hat mich aber beruhigt – er sei gar nicht echt, es sei nur eine Kopie, ein billiges Imitat des Lieblingsrings seiner Mutter. Er sei lediglich ein Symbol, er stehe für den echten Ring, den er mir dann zu unserer Heirat schenken wolle. Da war ich beruhigt – Modeschmuck konnte ich annehmen, das war etwas anderes, eine schöne Geste, nicht mehr. Und als Erich starb, habe ich den Ring immer behalten, als Erinnerung. Aber ich wollte nicht damit hausieren gehen, ich wollte nicht, dass man mir Fragen dazu stellt. Deshalb hielt ich ihn versteckt. Ich habe», jetzt klang ihre Stimme flehend, «gar nicht mehr daran gedacht. Und als ihr mich dauernd nach wertvollen Besitztümern gefragt habt, kam mir der Ring auch nicht in den Sinn. Warum auch – er ist ja wertloser Modeschmuck. Das hat Erich mir damals glaubhaft versichert. Und er hat mich sicher nicht angelogen. Warum auch? Oder? Oder doch?»
Eric nahm mir den Ring wortlos ab. Er wog sein Gewicht in der Hand. Dann kniff er ein Auge zusammen, hielt den Stein gegen das Licht. Ein irrwitziges blaues Funkeln.
«Sagen wir es mal so», meinte er schliesslich langsam. «Wenn dieser Ring wider Erwarten doch kein Imitat sein sollte, dann hätten wir einen sehr, sehr guten Grund dafür, dass jemand hinter dir her ist, Mutter.»
Der Ring wog schwer wie ein Mühlstein in meiner Tasche, als ich tags darauf mit Anna im Gefolge am späten Nachmittag durch die Thuner Altstadt marschierte. Ich hatte das kitschige Schmuckstück wieder zurück in seinen angestammten Wollknäuel gestopft, zum Zweck maximaler Tarnung, aber trotzdem fühlte ich mich, als wären Suchscheinwerfer auf mich gerichtet. Ich wusste nicht, ob der Ring tatsächlich wertvoll war, aber allein die Möglichkeit machte mich nervös.
Anna war schneller zu Fuss, als ich vermutet hätte. Ich hatte meinen Schritt zuerst einfühlsam auf Geriatrie-Geschwindigkeit eingestellt, nachdem wir mein Auto im Parkhaus City West abgestellt hatten, aber dann hatte die alte Dame ein Gehtempo vorgelegt, das mir den Schweiss auf die Stirn trieb.
Seit sie ihre Erinnerung nach dem gewaltsamen Angriff wieder aufgefrischt, seit sie den Ring aus seinem längst vergessenen Versteck geholt hatte, war mit Anna eine Veränderung vorgegangen. Ich verstand nicht genau, was es war, aber ich spürte hinter ihrem zerbrechlichen Erscheinungsbild und der vagen Zurückhaltung neu etwas Stählernes, Zielgerichtetes.
Es war bereits am Eindunkeln, und auf den Strassen waren zahlreiche Passanten unterwegs, die ihre letzten samstäglichen Einkäufe erledigten oder durch die Stadt bummelten.
Folge 41
Anna und ich liessen das Bälliz hinter uns, überquerten die Mühlebrücke, passierten das Mühleloch und fanden uns, in der Oberen Hauptgasse angekommen, rasch vor dem diskreten Ladenlokal wieder. Frieden, Swiss Jewellers since 1898.
Ich wechselte einen Blick mit Anna, nickte ihr zu, dann drückte ich die schwere Glastür auf und stand im Verkaufsraum.
Eine junge, dunkelhaarige Verkäuferin kam mit freundlichem Lächeln auf uns zu.
«Guten Tag, mein Name ist Bergen - Kassandra Bergen. Ich habe einen Termin bei Herrn Frieden.»
Sie versprach, ihm sofort Bescheid zu geben, und es dauerte tatsächlich nicht länger als eine Minute, ehe er in den Verkaufsraum trat und uns warm begrüsste.
Thomas Frieden. Ein vitaler, herzlicher älterer Mann in akkurat gebügeltem Hemd mit dezentem Karomuster, ein alter Freund von Marcs Familie. Früherer Inhaber des alteingesessenen Juweliergeschäfts und immer noch aktiv als Gemmologe und Edelsteinspezialist. Exakt der Mann, den ich brauchte.
Wir folgten Thomas aus dem Verkaufslokal hinaus über eine Abfolge verwinkelter Gänge und Treppen in den ersten Stock, in sein Büro und Labor.
Ich war noch nie hier gewesen und schaute mich rasch um.
Auf einer Arbeitsfläche standen zahlreiche technische Instrumente, die ich mehrheitlich nicht einmal im Ansatz einer nutzbringenden Funktion zuordnen konnte. Es gab zwei grossformatige Arbeitstische, ausserdem zahlreiche Exponate in Schaukästen, die Thomas’ Leidenschaft für die Welt der Edelsteine illustrierten, seine Reisen, die ihn um den halben Erdball geführt hatten. Die Gemmologie, so schien es, war ebenso wie die Physik ein durch und durch internationales Fach.
Thomas bot uns Sitzgelegenheiten an, setzte sich dann uns gegenüber nieder. An seinem rechten Ringfinger, so fiel mir auf, trug er einen Ring mit einem grossen honigfarbenen Stein, der mich an das Auge einer Katze erinnerte.
«Schön, dich wieder einmal zu sehen, Ka. Wie geht es Marc?»
«Zu viel Arbeit in der Praxis, wie immer, sonst aber ganz gut, herzlichen Dank.»
Etwas verbiestert dachte ich daran, dass heute der erste Abend des ayurvedischen Kochkurses war, den mein Mann mit der perfekten Linda besuchte. Ich hätte wetten mögen, dass es ihm sogar blendend ging.
Aber immerhin war Marc abgelenkt und hatte mir keine Fragen über meine Pläne für den Nachmittag gestellt. Das war unbestreitbar ein Pluspunkt. Es wurde zunehmend schwierig, unverdächtige Erklärungen für die Abweichungen von meinem normalen Arbeitsalltag und meinen üblichen Zeitabläufen zu finden, für all die zusätzlichen Abwesenheiten. Auch Jana und Mia begannen, missmutige Bemerkungen zu machen und mich mit bohrenden Blicken zu mustern. Ich kam mehr und mehr in Bedrängnis mit meiner heimlichen Ermittlung.
«Du hast angedeutet, es gehe um die Untersuchung eines Schmuckstückes?» Thomas’ Frage holte mich in die Gegenwart zurück.
«Allerdings. Und zwar geht es um einen Ring, der meiner Bekannten hier, Frau Anna Dubach, vor Jahren einmal geschenkt worden ist. Anna war immer der Ansicht, es handle sich bei dem Stein um eine Imitation. Aber nun möchte sie es genau wissen.»
Thomas warf mir einen raschen, prüfenden Blick zu, der das unschöne Hämatom auf meinem Jochbein streifte - ich hatte es wacker versucht, aber keine Schminke der Welt konnte diese Verletzung ganz abdecken. Ich hatte schon alle Hände voll zu tun gehabt, meine Blessur Marc gegenüber einigermassen glaubwürdig zu erklären. Ich hoffte von Herzen, dass er mir die Geschichte vom unbeholfenen Zusammenstoss mit meiner Bürotür abgenommen hatte, befürchtete aber das Gegenteil. Das misstrauische Glimmen in seinem Blick hat mir einen kalten Schrecken eingejagt. Und das so kurz vor dem verdammten Kochkurs mit Linda.
In Thomas’ kurzem Blick auf meinen Bluterguss lag etwas Wissendes, was mir unzweifelhaft verriet, dass die Kunde meiner detektivischen Neigungen sogar in der guten Thuner Gesellschaft die Runde gemacht hatte - und dass er sich seinen Teil dachte. Aber er war Gentleman durch und durch und verzichtete darauf, nachzuhaken. Stattdessen wandte er sich mit vollendeter Höflichkeit an Anna.
«Dürfte ich mir den Ring einmal ansehen?»
«Ich habe ihn», meldete ich mich erneut zu Wort.
Ungeschickt pfriemelte ich das Wollknäuel aus meiner Handtasche, fluchte, als sich einige Wollfäden in meinem Schlüsselbund verhakten, und zerrte schliesslich das bunte Stoffsäcklein mit dem Ring aus dem Knäuel heraus. Thomas hob eine Augenbraue, schwieg aber auch dazu. Ich musste seine Contenance wirklich bewundern.
Ich reichte ihm das Schmuckstück.
«Misst du jetzt das spezifische Gewicht?», wollte ich wissen, ein wenig stolz, etwas Sachkundiges beitragen zu können.
Thomas lächelte fein. «Die Bestimmung des spezifischen Gewichts hat früher eine Rolle gespielt. Aber die optischen Untersuchungsinstrumente sind mittlerweile so hochentwickelt, dass es heute bedeutungslos ist.»
Mist. So viel zu meiner Sachkunde.
Interessiert beobachtete ich, wie Thomas den Stein zuerst von blossem Auge begutachtete, dann mit einer kleinen Lupe.
«Hmm», machte Thomas.
«Was hmm?», wollte ich wissen. «Ist der Stein echt?»
«Geduld, liebe Ka. Zuerst das Refraktometer.»
Folge 42
Geduld war keineswegs meine Kernkompetenz. Als Thomas seinen Stuhl verliess und mit dem Ring in der Hand zu seinen Untersuchungsinstrumenten hinüberging, folgte ich ihm auf dem Fusse und schaute ihm über die Schulter.
«Was ist ein Refraktometer?», wollte ich wissen, den zweiteiligen grauen Kasten misstrauisch beäugend.
«Wenn Licht in einen dichteren Körper eindringt, wird es gebrochen, und je dichter die Atome gepackt sind, desto lotnaher, also senkrechter erfolgt diese Brechung - die Lichtgeschwindigkeit wird umso mehr abgebremst.»
Ich verzog das Gesicht. Die Naturwissenschaften dominierten diesen Fall eindeutig. Und das machte mich nicht nur glücklich.
«Jeder Stein hat seinen eigenen Brechungsindex, der auf dieser Tabelle», Thomas griff nach einer laminierten Tabelle, beidseitig dicht mit Informationen vollgepackt, und hielt sie mir vor die neugierig vorgestreckte Nase, «erfasst ist. Je höher der Brechungsindex, desto brillanter der Stein. Lass mich mal sehen »
Er positionierte den Ring im Lichtstrahl.
Eine Weile sagte er nichts. Dann machte er wieder «hmm».
«Was?», fragte ich drängend.
Thomas lächelte wieder sein hintergründiges Lächeln. «Ein Saphir.»
«Wirklich? Bist du dir da sicher?», rief ich aufgeregt.
«Nur die Korunde, zu denen die Saphire und Rubine gehören, haben einen Brechungsindex von 1.76 bis 1.77 mit 0.08 Doppelbrechung», erwiderte Thomas gelassen.
Das verstand ich nicht, aber es klang eindrucksvoll.
«Wow, ein Saphir», machte ich. «Ist er wertvoll?»
«Ka», mahnte Thomas, nach wie vor geduldig, aber nun doch ein wenig nachdrücklicher. «Lass mich meine Untersuchung fortführen, in Ordnung? Es ist ein Saphir, aber die nächste Frage ist nun, ob er echt oder synthetisch ist».
«Synthetisch? Dann könnte es doch ein Imitat sein?», fragte Annas Stimme von hinten.
Ich wandte mich um.
Sie sass immer noch an ihrem Platz, deutlich ruhiger und gefasster als ich.
Thomas schüttelte den Kopf. «Sicher kein Imitat in diesem Sinne - eine Imitation sieht nur von blossem Auge gleich aus wie ein Edelstein, besteht aber aus einem ganz anderen Material. Ein synthetischer Saphir hingegen weist die gleichen chemischen und physikalischen Eigenschaften auf wie ein echter, aber er ist man made, also im Labor und nicht natürlich entstanden, und ist damit nicht, wie ein echter Edelstein, verkörperte Erdgeschichte - echte Farbedelsteine sind immerhin vor 20 bis 500 Millionen Jahren entstanden. Im Vergleich zu Diamanten, deren Entstehung sogar 3 bis 4 Milliarden Jahre zurückliegt, zwar durchaus Jungspunde, aber trotzdem. Die Unterschiede zwischen einem echten und einem synthetischen Stein sind oft nicht leicht zu erkennen, haben aber grosse Konsequenzen.»
«Und das macht einen Unterschied aus, was den Preis angeht?», vergewisserte ich mich.
Er lachte. «Allerdings. Ein echter Saphir dieser Grösse kann durchaus eine sechsstellige Summe wert sein. Ein synthetischer keine hundert Franken.»
«Sechsstellig», murmelte ich beeindruckt.
Thomas indes hatte sich bereits dem nächsten Gerät zugewandt.
«Und jetzt?», forderte ich zu erfahren.
«Das Polariskop», erwiderte Thomas, und hielt auch hier den Ring in den Lichtstrahl. «Ich überprüfe hier den optischen Charakter des Steins. Ah, wie erwartet: doppelbrechend. Das bestätigt den Saphir. Aber, ehe du fragst», er hob warnend den Finger, «das war nur ein Bestätigungstest. Er könnte immer noch synthetisch sein. Jetzt geht es ans Mikroskop.»
Er bewegte seinen rollenden Hocker ans Mikroskop - zumindest dieses Gerät sagte mir etwas, von meinem Medizinstudium her.
«Da du ohnehin fragen wirst», murmelte Thomas mit nur einer Spur von Ironie, während er durch das Okular spähte, «am Mikroskop kann ich untersuchen, ob dieser Stein echt oder synthetisch ist. Echte Steine haben geradlinige Kristallstrukturen, während synthetische Strukturen gebogene Anwachsstreifen aufweisen, ähnlich wie die Jahresringe bei Bäumen, wenn auch deutlich weniger stark gebogen. Und man kann Einschlüsse sehen und anhand von charakteristischen Bildern allenfalls sogar Rückschlüsse auf die Herkunft von Steinen ziehen, die dann »
Seine Stimme verlor sich.
Ich wartete eine Weile, um Geduld ringend. Dann hielt ich es nicht mehr aus.
«Ja? Was ist?»
«Ich sehe», sagte Thomas, und in seinen Tonfall hatte sich ein winziger Funke von Aufregung gestohlen, von Faszination, «eine Art von feinem Nebel, es wird einem fast schwindlig beim Reinschauen. Dieser Stein ist nicht so klar wie andere Saphire. Es hat typische längliche, lanzenförmige Einschlüsse und Pünktchen, die diffus in einer Linie verlaufen.»
Ich verstand nur Bahnhof.
«Und das bedeutet?», fragte ich überlaut. «Ist der Stein echt?»
Jetzt sah Thomas auf.
«Oh ja, das ist er», sagte er beiläufig. «Aber das ist nicht das Spannendste daran.»
«Nein?», fragte ich verwundert.
Er schüttelte den Kopf.
«Ich vermute», begann er, und das Feuer der Begeisterung in seinem Blick war nun offenkundig, «ich vermute, es handelt sich hier um einen Kashmir-Saphir.»
«Es ist ein echter Stein?», meldete sich Anna zu Wort.
Sie war jetzt aufgestanden, und ihr Gesichtsausdruck war seltsam leer.
Folge 43
Thomas wandte sich ihr zu. «Echt ist er sicher, Frau Dubach. Aber es gibt verschiedene Abstufungen von echt. Und wenn ich mich nicht täusche, handelt es sich hierbei um einen Stein aus der legendären und seit langer Zeit erschöpften Kashmir-Mine im Himalaya. Ich schlage Ihnen vor, den Stein genauer untersuchen zu lassen, um seine Herkunft zweifelsfrei festzustellen. Im SSEF in Basel oder im Gübelin-Labor in Luzern, zwei der weltweit vielleicht nur sechs bis acht Institute, die auf höchstem Niveau Steine beurteilen und auch ein Zertifikat ausstellen können. Aber mein Bauchgefühl sagt mir: Es ist ein Kashmir-Saphir. Diese einzigartigen Steine findet man heute nur noch in Erbschaften oder Sammlungen. Und ihr Wert übertrifft die Saphire anderer Provenienzen bei Weitem.»
Ich spürte, wie mein Mund trocken wurde.
«Bei Weitem?», stiess ich hervor. «Wieviel Wert könnte dieser Ring besitzen, wenn es sich um einen Kashmir-Saphir handeln sollte?»
Thomas betrachtete den Ring stirnrunzelnd. «Die Fassung und die Diamanten sind weitgehend vernachlässigbar.»
«Ist die Fassung nicht aus Weissgold?», fragte ich erstaunt.
«Doch», meinte er lapidar. «Aber wie ich sagte: All das ist vernachlässigbar. Der wahre Wert ist der Stein – ich schätze, er hat sieben oder acht Carat. Ein Kashmir-Saphir von dieser Grösse wird sicher 700’000 bis 800’000 Franken einbringen.»
Betretenes Schweigen machte sich breit.
«Ich gratuliere Ihnen, Frau Dubach», sagte Thomas dann gemessen. «Sie besitzen hier etwas Aussergewöhnliches.»
Anna indes sah nicht aus wie die Empfängerin einer wunderbaren Neuigkeit. Ihre hellblauen Augen loderten in kaltem Zorn.
Sie sagte nichts. Die Lippen aufeinandergepresst, starrte sie vor sich auf den Boden.
«Thomas», sagte ich, noch immer benommen von der Nachricht. «Angenommen, jemand würde so einen wertvollen Stein stehlen. Der wäre doch sicher schwierig zu verkaufen, oder? Man würde ihn wiedererkennen, wenn jemand versuchen würde, ihn zu Geld zu machen, nicht wahr? Die Polizei würde dem Dieb zweifelsfrei auf die Schliche kommen, oder?»
Thomas schüttelte den Kopf. «Im Gegenteil, Ka. Es bereitet absolut keine Mühe, einen Stein ein wenig umzuschleifen, so dass er nicht mehr wiederzuerkennen ist. Der Stein verliert dabei ein wenig an Gewicht, gewinnt aber Anonymität. Bei Diamanten geht das völlig problemlos. Hier, in diesem speziellen Fall», er hob Annas Ring ins Licht, «wäre es theoretisch möglich, dass der Saphir infolge seiner speziellen Einschlüsse erkannt werden könnte – das typische Einschlussbild eines Steines ist unverwechselbar wie ein Fingerabdruck. Nur müsste dieses typische Einschlussbild zuerst dokumentiert worden sein, was erst dann der Fall ist, wenn ein Zertifikat vorliegt, dabei macht man routinemässig Mikroaufnahmen. Und auch wenn dem so wäre – durch ein Umschleifen verliert man zwar im Schnitt fünf bis zwanzig Prozent an Gewicht und damit Wert, aber man verändert die im Zertifikat erfassten Parameter, das Gewicht und die Masse, dermassen, dass es trotz allem reiner Zufall wäre, wenn ein veränderter Stein anhand eines Einschlussbilds identifiziert werden könnte. So etwas gelingt kaum jemals. Auch wenn die Kashmir-Saphire heute sehr selten geworden sind – einige Tausend Steine gibt es trotzdem noch auf der Welt. Da fällt es schwer, den Überblick zu behalten. Und das wissen diese Verbrecher natürlich.»
«Unglaublich», hauchte ich kopfschüttelnd. «Das klingt, als wären diejenigen Kriminellen, die sich auf Edelsteine spezialisiert haben, ganz schön gewieft.»
Thomas nickte ernst. «Juwelendiebstahl ist eine weltweit organisierte Milliardenindustrie, das sind Profis, die wissen ganz genau, wie sie vorgehen müssen. Und ihr Aufwand lohnt sich auch – dass Edelsteine massiv viel Wert auf kleinstem Raum binden, dass sie mobil und transportierbar sind, ist gleichzeitig Fluch und Segen. Sie sind eine sichere Kapitalanlage, eine wertvolle Investition, aber auch äusserst attraktiv für Kriminelle.»
Wieder warf er mir einen abschätzenden Blick zu.
Ich wandte mich ab, sah Anna an. «Anna?», fragte ich sachte. Sie erschien mir völlig in sich gekehrt. «Was meinst du, willst du den Stein untersuchen lassen?»
«Eine Untersuchung ist nicht ganz gratis», gab Thomas zu bedenken. «Sie kann durchaus einige tausend Franken kosten. Aber gemessen am Wert des Steins ist diese Investition eine Lappalie.»
«Und», fügte ich bedeutungsvoll hinzu, «dem Ring könnte während der Dauer der Untersuchung nichts passieren. Er wäre in sicheren Händen.»
«Der Stein», bestätigte Thomas, «wäre für ungefähr drei Wochen im Labor. Natürlich unter maximalen Sicherheitsvorkehrungen.»
Anna zögerte. Dann nickte sie knapp. «Ja, bitte lassen Sie ihn untersuchen, Herr Frieden. Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe sehr dankbar.»
Unten auf der Strasse, nachdem wir uns von Thomas Frieden verabschiedet hatten, ich herzlich, Anna desinteressiert und abwesend, als wir im vom Licht der Schaufenster rundum erhellten winterlichen Dunkel in Richtung Parkhaus losgingen, wagte ich es endlich, sie anzusprechen.
«Was ist los, Anna?», fragte ich leise. «Bist du überwältigt vom Wert des Rings? Kommen Erinnerungen hoch?»
Sie blieb stehen, wandte sich mir zu, und ich war erschrocken von der eisigen Kälte, die sie ausstrahlte, der Wut und Kraft.
«Sein Tod war kein Unfall, Kassandra», sagte sie.
Ich spürte, wie mir der Mund aufklappte. «Wie? Wessen Tod?»
Folge 44
«Erichs Tod», stiess Anna hervor. «Ich war völlig ahnungslos, all die Jahre - ein halbes Jahrhundert lang! Aber jetzt, wo ich weiss, was dieser Ring bedeutet, wieviel er wert ist, jetzt erkenne ich es ohne jeden Zweifel. Erich ist nicht durch einen Unfall ums Leben gekommen. Es war Mord.»
Kapitel 12
Die Wohnung von Violetta, Eric Dubachs Partnerin, lag in einer neuen Wohnsiedlung nahe dem Berner Rosengarten. Ich hatte, als ich wenig zuvor mein Auto auf dem Parkplatz der Siedlung abgestellt hatte und mit Anna zusammen bis zum gesuchten Haus marschiert war, angesichts der gewaltigen Gebäudekomplexe und des verdichteten Baustils die Nase gerümpft, musste aber meine Meinung revidieren, als ich in der gemütlichen Zweieinhalbzimmer-Wohnung ankam. Die Wohnräume waren licht und hell, der gedeckte Balkon, wenn auch jetzt im Winter kaum nutzbar, war grosszügig bemessen, und eine Nische vor dem Schlafzimmer bot sogar Platz für eine kleine Büroecke mit einem Bücherregal und einem Sekretär. Eine einladende, sympathische Wohnung.
Trotzdem - überwältigend viel Platz hatte Violetta nicht gerade. Was diese aber nicht im mindesten zu kümmern schien.
«Natürlich kann Anna auch hier übernachten», meinte sie fröhlich. «Es wird ein wenig eng, aber mein Sofa lässt sich zum Gästebett ausziehen, eine Schlafgelegenheit wäre also vorhanden.»
Es war am gleichen Abend, nur zwei Stunden nach unserem Besuch bei Thomas Frieden. In einem eiligen telefonischen Austausch hatten Martin und ich beschlossen, kurzfristig ein Treffen einzuberufen, und zwar in Violettas Wohnung, wo Eric und sie gerade ihr Abendessen beendet hatten. Ich war sogar ein wenig dankbar, dass Marc gerade zusammen mit der liebreizenden Linda mit Kurkuma und Zimt hantierte, und auch Jana und Mia waren ausser Haus, unterwegs mit Freundinnen. Mein ausgedehntes Fernbleiben würde niemandem auffallen.
Violetta Gianni, eine zierliche Frau um die vierzig mit dunkelbrauner Kurzhaarfrisur und funkelnden schwarzen Augen, war als Astrophysikerin beruflich ebenso international orientiert wie ihr Partner und hielt sich häufig an Universitäten im Ausland auf. Ihre Wohnung in Bern, das wurde spürbar, war mehr als Zwischenhalt denn als Ankerplatz fürs ganze Leben gedacht.
Ich wunderte mich - ich hatte immer gedacht, dass ich es als Ärztin besonders schwer hätte, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Aber wie es aussah, boten andere Berufsfelder noch viel weitergehende Herausforderungen. Für Physiker schien es durchaus üblich zu sein, dass man für die Karriere sein Heimatland verlassen und sich wiederholt entwurzeln musste. Ich war nicht erstaunt, dass Eric und Violetta trotz ihrer langjährigen Beziehung keine Kinder hatten, und fragte mich, ob sie je darüber nachdachten.
«Kommt nicht in Frage, dass ich hier übernachte», beschied Anna, die mit einer Tasse Tee vor sich am Esstisch sass, kategorisch. «Ihr beide braucht eure Privatsphäre, ich will euch nicht zur Last fallen. Und seit mein Türschloss ausgewechselt worden ist, kommt kein Fremder mehr in meine Wohnung rein. Ich komme sehr gut allein zurecht. Schliesslich bin ich nicht aus Zucker.»
Eric, Martin und ich wechselten unbehagliche Blicke.
Schliesslich war ich es, die das Wort ergriff. «Anna», begann ich behutsam. «Ich habe grossen Respekt vor deiner Entschlossenheit, und niemand behauptet, dass du aus Zucker wärst, beileibe nicht. Aber seit klar ist, dass die Gegenseite hinter dem Ring her ist, hat sich die Lage für mich deutlich verschärft. Denk einmal - ein immenser Wert, fast eine Million, auf kleinstem Raum, leicht transportabel, leicht verkäuflich, schwer nachverfolgbar. Die werden nicht so leicht aufgeben, bei so einer lockenden Beute. Mir wäre es nicht wohl bei dem Gedanken, dass du allein in deiner Wohnung sitzt. Womöglich sind das tatsächlich versierte und skrupellose Juwelendiebe. Die machen kurzen Prozess.»
«Der Ring ist in sicheren Händen, bei Thomas Frieden», beharrte Anna stur. «Den bekommen die nicht in die Finger.»
«Mag sein», entgegnete ihr Sohn mit mühsam beherrschter Ungeduld, «aber das wissen unsere Gegenspieler ja nicht, oder? Und wenn auch der Ring sicher vor ihrem Zugriff ist - dich können sie sehr wohl in die Finger bekommen, ausgewechseltes Türschloss hin oder her. Und wie wir erst kürzlich feststellen mussten, sind sie in der Wahl ihrer Mittel nicht kleinlich. Sicher», wiegelte er den aufkeimenden Protest seiner Mutter ab, «du hast dich beherzt zur Wehr gesetzt. Aber hätte nicht deine Nachbarin zufällig den Lärm gehört, wäre nicht Kassandra rechtzeitig dazugekommen, hätte die Konfrontation mit dem unbekannten Angreifer übel ausgehen können. Lange hättest du ihm nicht die Stirn bieten können. Du bist fünfundsiebzig, Mutter. Vergiss das nicht.»
«Ich vergesse es keineswegs», schnappte Anna. «Das ist ja gerade der Grund, warum ich nicht verzärtelt werden möchte. Ich bin eine alte Frau, ich habe mein Leben gelebt. Wenn mir etwas passiert, ist das weit weniger tragisch, als wenn es einen von euch trifft. Ihr seid jung, ihr steht mitten im Leben, und Kassandra und Martin müssen überdies für ihre Kinder sorgen. Euch darf nichts passieren, ihr seid die Verletzlichen. Mein Alter macht mich frei. Und ich habe nicht vor, klein beizugeben.»
«Das ist eine lobenswerte Haltung», meldete Martin sich zu Wort, «aber wir sind auch beweglicher und kräftiger als du. Wir können uns wehren.»
«So?», meinte Anna und warf mir einen, wie ich fand, leicht verächtlichen Blick zu.
Folge 45
Ich spürte, wie mir in Erinnerung an meinen wenig beeindruckenden Auftritt während des Handgemenges in ihrer Wohnung die Ohren vor Scham rot anliefen.
«Anna», sagte ich streng, «es nützt alles nichts. Wenn wir dir helfen sollen, diese Sache aufzuklären und herauszufinden, wer hinter alledem steckt, dann darfst du uns nicht zwischen den Beinen herumwuseln. Wenn du unsere Hilfe willst, musst du kooperieren und auf uns hören.»
Anna zögerte. Sie mass uns, einen nach dem anderen, mit abschätzenden Blicken.
«Ihr werdet den Mord an Erich für mich aufklären?», fragte sie schliesslich.
Ich blies die Wangen auf. «Anna, ehrlich», antwortete ich ihr einigermassen hilflos. «Die Sache liegt fünfzig Jahre zurück. Du weisst so gut wie nichts darüber, du kannst uns kaum Anhaltspunkte geben. Mag sein, dass mit seinem Tod damals nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist – aber wie sollen wir das heute noch herausfinden? Nach einem halben Jahrhundert? Die Versuche, den Ring zu stehlen, sind etwas anderes, die sind aktuell, die passieren hier und heute. Aber der Todesfall von damals …?»
«Auch der Ring lag ein halbes Jahrhundert unbehelligt bei mir, und niemand hat sich darum gekümmert. Warum jetzt, auf einmal, nach so langer Zeit?», hielt Anna stahlhart dagegen. «Findet das heraus, und ihr habt Erichs Mörder.»
Eric massierte entnervt seine Schläfen. «Mutter, denk doch nach. Du und Erich, ihr wart damals Anfang zwanzig. Der Mörder, falls es denn einen Mörder gab, wird sicher nicht gross jünger gewesen sein als ihr, womöglich sogar älter – das heisst, er wäre heute mindestens in deinem Alter. Der Angreifer indes ging ganz sicher nicht gegen die achtzig, oder?»
«Natürlich nicht, rede doch keinen Blödsinn!», erwiderte Anna ungehalten. «Aber der Mörder hat wahrscheinlich einen jungen Schläger beauftragt, die Drecksarbeit für ihn zu machen. Sowas kommt doch allwöchentlich im Fernsehkrimi. Ich wiederhole: Findet heraus, wer hinter dem Ring her ist, und ihr findet Erichs Mörder.»
«Anna spricht einen wesentlichen Punkt an», gab Martin ruhig zu bedenken. «Warum hat man sie fünfzig Jahre lang in Ruhe gelassen, aber jetzt auf einmal diese geballten Vorstösse und Angriffe? Es scheint, als hätte jemand erst kürzlich davon erfahren, dass dieser Ring überhaupt existiert und dass Anna ihn hat. Aber wie und warum? Der Gedanke, dass all das etwas mit Erichs Geschichte zu tun haben muss, ist nicht dumm.»
«Mit mir kann es auf jeden Fall nichts zu tun haben», warf Anna ein. «Ich wusste ja gar nicht, dass der Ring so viel Wert hat. Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr in der Hand gehabt, und ich habe niemandem etwas darüber erzählt, seit Jahrzehnten nicht.»
«Das heisst», folgerte ich nachdenklich, «dass auf der Gegenseite irgendetwas passiert sein muss. Nach all den Jahren muss die Information, dass ein Ring von unschätzbarem Wert bei Anna Dubach in Bern zu finden wäre, an die Oberfläche gekommen sein.»
«Ich hiess damals nicht Dubach», erinnerte Anna, «sondern Haldemann.»
Martin zog rasch sein Handy hervor, tippte konzentriert darauf herum.
«Im Telefonbuch», meldete er dann, «bist du vermerkt als Anna Dubach Bindestrich Haldemann, und…», er tippte wieder etwas ein, «es gibt in der Schweiz erstaunlich wenige Annas Haldemann. Wer deinen ledigen Namen wusste, konnte dich mit wenig Aufwand finden.»
«Es ist nicht zu erwarten, dass jemand fünfzig Jahre lang wusste, dass du den Ring hast, aber sich erst heute spontan entschliesst, ihn sich zu holen. Das würde absolut keinen Sinn machen. Daraus leitet sich ab», folgerte Eric mit gerunzelter Stirn, «dass jemand erst kürzlich von dem Ring erfahren hat, oder aber, dass er oder sie schon lange von dem Ring wusste, aber erst kürzlich erfahren hat, dass du ihn hast.»
«Ich vermute», murmelte ich gedankenverloren, «es ist eher letztere Variante, oder? Aber wie sollte jemand nach so langer Zeit auf deinen Namen gekommen sein?»
«Briefe!», rief Martin unvermittelt aus, und wir fuhren alle zusammen. «Hast du Erich damals Briefe geschrieben, Anna?»
Anna dachte angestrengt nach. «Das kann schon sein», meinte sie zögernd. «Ich weiss es nicht mehr. Es ist so lange her.»
«Aber die Arbeitshypothese ist gut», warf ich aufgeregt ein. «Durch irgendeinen Zufall sind nach all den vielen Jahren alte Briefe aufgetaucht, die Licht darauf warfen, wo der lange vermisste Ring zu finden sein könnte. Und der, der diese Briefe gefunden hat, hat seine Chance beim Schopf gepackt.»
«Weil er Schuldgefühle hat», ergänzte Anna entschieden. «Weil er Erich auf dem Gewissen hat.»
«Alles gut und recht», meinte Violetta, die bislang still auf dem Sofa gesessen und unseren Wortwechsel verfolgt hatte, «aber wie findet ihr heraus, wer das ist? Wer war überhaupt dieser Erich, und wo lebte er?»
«Du legst deinen Finger in eine klaffende Wunde, mein Herz», erwiderte Eric zynisch. «Wir wissen so gut wie nichts über Erich.»
«Er hiess Erich Weber», warf Anna erbost ein, «und seine Familie führte ein angesehenes Hotel im Zentrum von Bern, das schon lange in Familienbesitz war. Das ist viel mehr als nichts!»
«Ein Hotel, an dessen Namen du dich leider nicht mehr erinnerst», fügte Eric vorwurfsvoll hinzu.
«Gib mir ein wenig Zeit, sei so gut», gab Anna bissig zurück. «Es ist fünfzig Jahre her, und wie du selbst so feinfühlig bemerkt hast: Ich bin eine alte Frau. Ich werde mich schon noch daran erinnern.»
Folge 46
«Ich kann dir eine Liste der Hotels in der Berner Innenstadt ausdrucken», schlug Violetta vor und erhob sich geschmeidig vom Sofa. «Mag sein, dass das Hotel heute nicht mehr existiert oder dass der Name geändert wurde. Aber einen Versuch ist es wert. Vielleicht hilft das deiner Erinnerungsfähigkeit auf die Sprünge.»
«Danke, Liebes», sagte Anna warm. «Das ist ein sehr hilfreicher Vorschlag.»
Sie warf uns anderen einen grantigen Blick zu, der deutlich machte, dass unsere Vorschläge deutlich weniger hilfreich waren.
Anna, so schien es, war seit dem Besuch bei Thomas Frieden nicht mehr die gleiche Frau wie zuvor. Ihre stille Zurückhaltung hatte einer eisernen Entschlossenheit Platz gemacht, die mich erstaunte.
«Wir geben uns Mühe, Anna», versicherte ich ihr rasch. «Wir werden ungeachtet der etwas dünnen Ausgangslage versuchen, das Rätsel für dich zu lösen. Aber nur, wenn du bereit bist, mit uns zu kooperieren und dich in Sicherheit zu begeben.»
Anna warf mir einen vernichtenden Blick zu.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und erwiderte ihren Blick entschlossen. Anna war eine harte Gegnerin, aber ich verzog keine Miene und starrte sie unbeugsam nieder.
«Ihr wollt also, dass ich einige Tage hier lebe, in der Wohnung von Violetta?», fragte sie schliesslich verdrossen.
Ich schüttelte langsam den Kopf. «Nein, das ist für mich nicht die optimale Lösung, auch wenn Eric das vorgeschlagen hat. Es würde sicher ein wenig Mühe kosten, herauszufinden, wo du dich aufhältst. Man müsste es über Eric versuchen, über seine Arbeitsstelle zum Beispiel. Aber es wäre nicht ausgeschlossen, dass jemand sehr Entschlossenes rausbekommt, wo die langjährige Freundin von Eric Dubach zu finden ist. Ich möchte dich ganz aus dem Schussfeld nehmen, Anna. Ich möchte, dass du vollkommen sicher bist, an einem Ort, wo absolut niemand dich vermutet.»
«Und wo könnte das sein?», fragte Eric.
Ich hob entschuldigend die Hände. «Auf einer geschlossenen Akutstation für Gerontopsychiatrie in der Klinik Eschenberg.»
Kapitel 13
Ich war mehr als dankbar, als Anna am Montag darauf endlich plangemäss in die Klinik eingetreten war.
Es hatte ungeheure Überzeugungskraft gekostet, nicht nur Annas erbittertem Widerstand zu begegnen, sondern auch Martins Bedenken, dass die Indikation für eine Klinikeinweisung unter solchen Umständen ein wenig fragwürdig sei; eng betrachtet, so hatte er argumentiert, könnte uns so etwas als Versicherungsbetrug ausgelegt werden, weil eine Hospitalisation medizinisch gesehen nicht unbedingt notwendig sei.
«Eng betrachtet», hatte ich erzürnt geantwortet, «bist du ein pingeliger Paragraphenreiter und Angsthase, Martin. Solche Erwägungen stellen jetzt unser allerkleinstes Problem dar. Anna Dubach ist eine Frau, die erst kürzlich einem brutalen Angriff entkommen ist. Sie ist an Leib und Leben gefährdet, wenn sie weiterhin in ihrer Wohnung bleibt, und sie ist traumatisiert durch den Überfall. Wenn das keine ausreichende Indikation für eine psychiatrische Hospitalisation ist, was dann?»
«Ich bin nicht traumatisiert», hatte Anna bockig eingewandt.
«Doch», hatte ich beharrt, «du bist sehr wohl traumatisiert. Wenn ich es sage, dann bist du traumatisiert.»
Ich hatte erneut zu einem Blickduell angesetzt, aber Anna hatte abgewunken.
«Na gut», hatte sie eingelenkt. «Wenn du mir dafür Erichs Mörder findest, bin ich halt traumatisiert.» Also hatte ich ein wenig unaufrichtig versprochen, alles daran zu setzen, den Mord an Erich zu klären, ohne wirklich daran zu glauben, dass es überhaupt einen Mord gab, und Anna war zufrieden gewesen und hatte sich gehorsam instruieren lassen, welche Symptome sie in der Klinik zur Untermalung ihrer angeblichen Traumatisierung nennen musste. Ich hatte ein ärztliches Einweisungsschreiben für Anna verfasst und mit dem leicht verwunderten Dienstarzt der Klinik Eschenberg telefonisch einen Eintrittstermin vereinbart.
Und jetzt, da ich wusste, dass Anna eingetreten war und das Eintrittsgespräch mit dem zuständigen Assistenzarzt gerade lief, spürte ich, wie die Verspannungen in meinem Nacken sich allmählich zu lösen begannen. Als hätte jemand eine drückende Last von meinen Schultern genommen.
Die letzten Tage waren aufreibend gewesen. Nicht nur, dass aus dem mutwilligen Flirt mit dem Rätsel eine gefährliche Sache um handfeste kriminelle Interessen geworden war – damit, das war mir bewusst, hatte ich rechnen müssen.
Aber es fiel mir schwer, meinen ursprünglichen Plan von der Interessentrennung, den unterschiedlichen Rollen aufrechtzuerhalten. Was sich zuerst wie ein leichtfüssiges Spiel angefühlt hatte, ein vergnüglicher Reigen, war mir nun zur Last geworden.
Es war anspruchsvoll, zuhause die solide, warmherzige und zudem gesundheitsbewusste Ehefrau und Mutter zu mimen, in der Klinik eine verlässliche, kompetente und bestens organisierte Oberärztin zu sein und dann nebenher im Schatten dieser beiden Rollen mein Alter Ego als furchtlose, gewitzte Ermittlerin zu leben.
Ich hatte mir, und das merkte ich erst jetzt, aus meiner üblichen Doppelbelastung unbedacht eine Dreifachbelastung mit erschwerender Heimlichkeitsverpflichtung gebastelt. Ich geriet in Erklärungsnot und war permanent überlastet, hetzte herum, von einer Baustelle zur nächsten. Und ich musste meinen Mann und meine Kinder viel zu häufig anlügen.
Folge 47
So war das nicht geplant gewesen, ich hatte es mir einfacher vorgestellt, geschmeidiger, erfolgreicher. Ich konnte die Geister, die ich gerufen hatte, nicht mehr im Zaum halten. Mein kluger Plan hatte eine ungeliebte Eigendynamik entwickelt.
Ja, ich spürte es immer noch, das Prickeln des Abenteuers, den Hauch von Gefahr und Mysterium. Aber vor allem spürte ich das Joch von zu hohen Ansprüchen und zu wenig Zeit, von Lügen und Täuschung. Und das wog schwerer. Ich hatte mich, so hielt ich mir seufzend vor Augen, vom Regen in die Traufe manövriert.
Und ich spürte, wie die Angst nach mir griff, wenn ich den abwesenden, träumerischen Ausdruck in Marcs Gesicht sah. Seit dem gemeinsamen Kursabend mit Linda kam er mir noch weniger greifbar vor. Als wäre er in Gedanken ganz woanders.
Was, wenn er innerlich bereits abdriftete? Was, wenn mein Mann insgeheim schon die Trennung von mir plante, den Auszug, ein neues, unbelastetes Glück mit der perfekten Linda? Was, wenn mein Plan misslang, wenn das Band, das Marc und mich seit Jahrzehnten verband, sich aufzudröseln begann, egal, wie sehr ich dagegen anzukämpfen versuchte? Was, wenn ich ihm nicht mehr genügte, nicht mehr die Richtige für ihn war, nicht einmal jetzt, da ich mich derart um ihn bemühte, mich verbog und abschuftete?
Was, wenn ich ihn verlor? Kaltes Entsetzen überflutete mich, wenn ich daran dachte.
Immerhin, so versuchte ich mir Trost zuzusprechen, war Anna jetzt versorgt, und, als organisatorisches Plus, sogar nahe an meinem Arbeitsort. Die regelmässigen Fahrten zu ihrer Wohnung in Bern würden wegfallen – eine grosse Entlastung. Alles würde besser werden.
Schon wenige Stunden später indes begann ich zu bezweifeln, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, Anna in die Klinik Eschenberg zu holen.
Nur wenige Minuten nach ihrem Aufnahmegespräch hatte sie mich durch ihren sichtlich eingeschüchterten zuständigen Assistenzarzt eigens aus dem grossen Klinikrapport holen lassen, wegen eines wichtigen Anliegens. Besorgt war ich auf ihre Station getrabt, um dort von ihr zu erfahren, dass sie von Erich geträumt und er ihr im Traum bestätigt habe, sein Tod sei kein Unfall gewesen.
Ich hatte grosse Mühe gehabt, mich zu beherrschen.
Eine Stunde später hatte sie mich aus einer Eintrittsgemeinsamen auf meiner Station gepiepst, um mir zu sagen, dass sie eine verschwommene Erinnerung an den Eingangsbereich des besagten Berner Hotels habe, aber sich nach wie vor nicht auf dessen Namen oder genaue Lage besinnen könne.
Jetzt, eine weitere Stunde später, störte sie mich mit einem weiteren Anruf bei der nervenzehrenden Korrektur eines psychiatrischen Gutachtens.
«Ja?», blaffte ich ungeduldig.
«Ich bitte dich, Kassandra», erwiderte Annas Stimme mit Würde. «Nicht so unfreundlich.»
«Was ist diesmal los?», knurrte ich. «Hast du den Namen von Erichs Mörder aus dem Kaffeesatz gelesen?»
«Nein», erwiderte sie trocken. «Aber ich erinnere mich jetzt an den Namen des Hotels.»
«Störe ich?», fragte Martin, der nach einem zivilisierten Klopfen an der Tür in mein Büro getreten war, ohne meine Antwort abzuwarten.
Ich hielt meinen Blick unverwandt auf den Bildschirm meines Computers gerichtet und tippte stirnrunzelnd.
«Hmm», machte ich vage.
Martin trat hinter mich. «Arbeitest du an unserem Fall?»
«Ja, endlich mal», erwiderte ich. «Vorher bin ich nicht dazu gekommen – die spinnen gerade auf meiner Station, alle wollen was von mir, niemand kommt allein klar. Und Anna ruft mich ungefähr halbstündlich an, um sich nach meinen Fortschritten zu erkundigen. Die Frau macht mich wahnsinnig», beschwerte ich mich empört. «War sie nicht bis vor Kurzem noch liebenswürdig und handzahm? Seit dieser Ringsache ist sie völlig verändert. Sie schüchtert mich regelrecht ein – mich, stell dir das mal vor! Ein richtiger Drache, die alte Dame. Kommandiert mich ganz schön herum.»
Martin verkniff sich ein Grinsen. «Ein Esel schimpft den anderen Langohr», murmelte er, deutete dann aber, ehe ich eine scharfe Replik formulieren konnte, mit dem Finger auf den Bildschirm.
«Denkst du, das hier ist es?»
Ich nickte. «Könnte sein, oder? Annas Erinnerung zufolge hiess das Hotel von damals Weisses Kreuz und befand sich nahe dem Bahnhof in der Altstadt. Und hier findet sich ein schickes Boutique-Hotel namens «Le Grand Blanc», ebenfalls nahe dem Bahnhof in der Altstadt. Auf der Website sind keine Hinweise auf die früheren Besitzer oder den früheren Namen zu finden, aber immerhin ist davon die Rede, dass es ein Traditionsbetrieb mit historischen Wurzeln sei.»
«Le Grand Blanc?», fragte Martin verwundert. «Ein seltsamer Name.»
«Offenbar», ich klickte auf der Website herum, um ihm einige Bilder zu zeigen, «das Motto des Hotels: Alles ist weiss. Die Wände, die Böden, die Decken, die Möbel. Der Speisesaal, die Bar, die Zimmer. Einfach alles. Denn, so steht zu lesen, Weiss stehe für Reinheit, Leichtigkeit und Ruhe. Alles Dinge, die gemäss dem Hoteldirektor offenbar in unserer hektischen Zeit zu kurz kämen. Das Hotel soll gestressten und ausgebrannten Gästen einen Ruhepol bieten, eine Oase der puren Erholung, und den Gedanken Freiraum geben, sich zu entfalten. Marc wäre sicher begeistert, oder?», fügte ich sarkastisch hinzu.
Folge 48
«Interessantes Konzept», meinte Martin ein wenig skeptisch. «Ich denke mal, die Konkurrenz im Hotelsektor muss gewaltig sein. Da braucht es solche ausgefallenen Ideen – als Alleinstellungsmerkmal.»
Er liess sich auf der Tischkante meines Pultes nieder und sah mich an.
«Und jetzt?»
Ich warf ihm ein unschuldiges Lächeln zu. «Findest du nicht auch, dass mir ein Ruhepol und eine Oase der puren Erholung guttun würden?»
«Du willst dir ein Zimmer im Hotel nehmen?»
«Natürlich. Was sonst?»
«Das ist nicht ganz unproblematisch. Du musst deine Identität offenlegen, wenn du dich dort einschreibst, deine Papiere zeigen. Falls zufällig jemand vom Hotel hinter unserem Fall steckt, könnte das gefährlich werden. Besonders, wenn du beginnst, unbequeme Fragen zu stellen. Was du zweifelsohne tun wirst.»
Ich winkte ab. «Ich werde ganz diskret und feinfühlig vorgehen. Und unsere alte Masche verwenden – ich werde mich als Möchtegern-Krimiautorin vorstellen. Ich habe regelrecht einen Narren gefressen an dieser Ausrede; sie bietet ungeheure Möglichkeiten. Die Leute erzählen dir alles, was du wissen willst, und fühlen sich angesichts deines Interesses noch geehrt. Dass ich nicht früher darauf gekommen bin, allerhand.»
«Und was ist mit Marc? Nimmst du ihn mit?»
«Gott behüte!»
«Und was», fügte Martin seidenweich hinzu, «willst du ihm in dem Fall erzählen?»
«Ich habe da schon einen Plan.»
Martin seufzte. «Hast du den nicht immer? Aber ehrlich, Kassandra. Willst du nicht damit aufhören?»
«Womit aufhören?»
«Marc anzulügen. Dich zu verstellen. So zu tun, als wärst du etwas, was du niemals sein wirst.»
«Lass das nur meine Sorge sein, in Ordnung?»
«Ja?» «Das ist aber schnell gegangen! Hast du neben dem Telefon gelauert? Bist du mittlerweile so gelangweilt, dass du regelrecht nach Ablenkung und Zerstreuung lechzt?»
«Ah, wenn das nicht Ka ist, meine liebe, herzliche Freundin», entgegnete Kerstin Lindner zynisch. «Immer aufbauend, immer wertschätzend. Immer ein respektvolles Wort auf den Lippen.»
«Wie geht es so, altes Haus?», fragte ich betont fröhlich, entschlossen nicht auf ihre Sticheleien eingehend. Schliesslich wollte ich etwas von ihr, mir war an einer harmonischen Grundstimmung gelegen.
«Ist der Kleine zufrieden und gefrässig?»
«Und wie – ein richtiger Wonneproppen, so schnell, wie der aus seinen Kleidern und Windeln rauswächst, kann ich gar nicht für Nachschub sorgen. Er nimmt ordentlich zu, er lächelt uns zahnlos an, und natürlich ist er hochbegabt. Ich erwäge, ihn bereits an der Uni zu immatrikulieren.»
«Prächtig, prächtig. Und wie geht es dir? Fühlst du dich gut? Geniesst du die Freuden der Mutterschaft?»
Kerstin Lindner, begabte Gynäkologin, alte Freundin und Kampfgefährtin in manchem Kriminalfall, war erst vor drei Monaten Mutter eines kleinen Sohnes geworden.
«Nun», meinte Kerstin sinnierend. «Sagen wir es mal so: Ich werde nachts nach wie vor zu Unzeiten aus tiefstem Schlaf gerissen, daran hat sich wenig geändert. Aber im Gegensatz zu meinen Bereitschaftsdiensten von früher muss ich nun nach einem nächtlichen Einsatz zumindest nicht noch einen Bericht diktieren. Immerhin.» Ich lachte glockenhell über ihren Scherz. «Ka, was willst du?»
«Wie? Was meinst du? Ich erkundige mich nach deinem Befinden, nichts weiter. Wie Freundinnen das so tun. Ich nehme Anteil.»
«Du bist interessiert und liebenswürdig. Du lachst über meine Witze. Fazit: Du braucht etwas von mir, und zwar dringend. Was ist es?»
«Das ist doch …»
«Wieder einer deiner Fälle? Raus damit, mir kannst du es sagen.»
Augenrollend knickte ich ein. «Ja, okay. Es ist wieder ein Fall. Ich brauche ein Alibi von dir.»
Ich könnte durch die Leitung direkt hören, wie sie eine Augenbraue hochzog. «Ein Alibi? Was für eines, und wozu?»
«Ich muss eine Nacht in einem Hotel verbringen, um Nachforschungen anzustellen. Und ich möchte nicht, dass Marc davon erfährt.»
«Hört, hört. Und was ist meine Rolle dabei?»
«Du», erklärte ich dezidiert, «rufst mich heute Abend zuhause an. Gestresst, ausgelaugt, mit den Nerven am Ende. Du erzählst mir mit tränenschwangerer Stimme, dass dir zuhause mit dem Kleinen die Decke auf den Kopf fällt, weil dein Ehemann Nils für eine Weile ausser Landes sei, und dass du ganz, ganz dringend meine Gesellschaft brauchst. Du flehst mich an, an meinem arbeitsfreien Mittwoch eine Nacht bei dir in Zürich zu verbringen und bis Donnerstag zu bleiben. Und ich, als warmherzige und loyale Freundin, werde es möglich machen und dir meine Hilfe zusichern, ich werde mir am Donnerstag sogar freinehmen. Nett, nicht wahr?»
«Und du denkst, dass Marc uns die Schmierenkomödie abnimmt?»
«Absolut», bekräftigte ich. «Er ist aktuell recht gefühlsbetont unterwegs und wird sogar gerührt sein. Wenn ich Glück habe, bringt mir das sogar zusätzliche Ehefrauen-Sonderpunkte ein.»
«Brauchst du denn Ehefrauen-Sonderpunkte bei Marc?», fragte sie trocken.
«Schweigen wir darüber. Hilfst du mir?» Sie seufzte abgrundtief. «Na gut.»
Schon am darauffolgenden Nachmittag traf ich im «Le Grand Blanc» ein, komplett mit Rollköfferchen und Laptop-Tasche, die ich beim Einchecken prominent vorzeigte.
Folge 49
«Zum Arbeiten. Ich bin nämlich Autorin und gerade in der Planungsphase meines nächsten Buches, und ich suche hier nicht nur Ruhe und Erholung, sondern auch Inspiration», erklärte ich der jungen Rezeptionistin augenzwinkernd, was diese mit einem nichtssagend-routinierten Lächeln zur Kenntnis nahm, ehe sie mir den Anmeldeblock über die Theke schob.
Ich füllte das Formular schwungvoll aus, nahm den Kartenschlüssel für mein Zimmer entgegen und liess mir den Weg zum Lift beschreiben.
Ich hatte, um der Umgebung gerecht zu werden, im Schrank meiner älteren Tochter gestöbert – kommoderweise trug Jana mittlerweile die gleiche Kleidergrösse wie ich. Offenbar bevorzugten Teenager aktuell Mode in Weiss, ein Umstand, der mich in der Waschküche schon mehrfach zur Raserei getrieben hatte, aber jetzt sehr gelegen kam. Skrupellos hatte ich mir Janas reinweisse Strickjacke unter den Nagel gerissen – als Mutter, so fand ich, hatte ich jedes Recht, den Spiess einmal umzudrehen, schliesslich klaute sie mir dauernd meine Lederjacke – und sie mit einem intellektuellen schwarzen Rollkragenpullover und einer fliessenden schwarzen Hose kombiniert. Niemand, so war ich überzeugt, würde an meiner Schriftsteller-Tarnung zweifeln können. Mit distanziert-verklärtem Blick, so fand ich, sah ich ein wenig aus wie Françoise Sagan.
Mein Zimmer war klein, aber sehr nett eingerichtet. Alles weiss, verstand sich. Ich fühlte mich ein wenig wie im Inneren eines Schneeballs, aber immerhin – eines sehr behaglichen Schneeballs.
Ich packte meine wenigen Habseligkeiten aus und begab mich dann, die Laptop-Tasche im Anschlag, nach unten in die Bar.
Ich bestellte einen weissen Tee, ganz im Sinne des Hotels, und klappte mein Notebook auf, öffnete ein Dokument mit der Überschrift «Mord im Hotel», das ich eigens für diesen Zweck vorbereitet hatte, und tippte angelegentlich herum, als der ebenfalls ganz in Weiss gekleidete Kellner mir meinen Tee brachte.
Entgegen meiner Hoffnung dachte der junge Mann nicht daran, einen Blick auf meinen Bildschirm zu werfen.
Nun gut. Dann musste ich eben selbst aktiv werden.
«Sagen Sie», sprach ich ihn an, während er mir eine weisse Porzellandose mit kreisrunden Zuckerstücken auf den Tisch stellte, «arbeiten Sie schon lange hier?»
«Erst seit einem halben Jahr», erwiderte der Jüngling mit wohlmodulierter Stimme.
«Tatsächlich?» Ich strahlte ihn an. «Ich bin Autorin, und ich habe mir hier eine Auszeit genommen, um den Plot für meinen nächsten Krimi etwas zu verfeinern. ‹Mord im Hotel› – Sie verstehen?»
«Interessant. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.»
Er wandte sich zum Gehen.
«Darf ich Sie etwas fragen?» Die Arme vor meinem Laptop auf dem Tisch verschränkt, lehnte ich mich in seine Richtung. «Haben Sie allenfalls von einem Todesfall in Zusammenhang mit diesem Hotel gehört? Es muss schon sehr lange her sein, aber man munkelt, dass hier früher einmal ein junger Mann zu Tode gekommen sei. Vor Jahrzehnten. Da ich einen historischen Krimi zu schreiben plane, interessiert mich sowas natürlich brennend.»
Die wohlerzogene Fassade des jungen Mannes, Zeugin einer guten Ausbildung, war undurchdringlich.
«Tut mir sehr leid, von so einer Geschichte habe ich nie etwas gehört. Aber wie gesagt, ich arbeite erst seit wenigen Monaten hier.» Er nickte freundlich, aber betont abschliessend, und zog von dannen.
Ich dachte natürlich nicht daran, mir von diesem ersten Fehlschlag die Laune verderben zu lassen. Womöglich war der Grünschnabel nicht die richtige Ansprechperson gewesen.
Also trank ich meinen Tee, liess ihn mir auf die Zimmerrechnung setzen und verlegte mein Aktionsfeld danach in die Hotellobby.
Ich installierte mich in einem blendendweissen Ledersessel, klappte erneut mein Notebook auf und tippte eine Weile eifrig. Dann hielt ich inne, mit explizit nachdenklicher, versunkener Miene, um dann aufzustehen und an die Rezeption zu treten, wo nach wie vor die junge Angestellte stand, die mich in Empfang genommen hatte.
«Verzeihen Sie die Störung», begann ich, und die junge Frau, flammend rothaarig, sportlich und überaus vital, wandte sich mir zu.
«Ich bin Autorin und schreibe gerade an meinem Buch.»
Sie nickte freundlich. «Genau, ich erinnere mich.»
«Es soll ein historischer Kriminalroman werden. Deshalb bin ich auch in Ihr Hotel gekommen, um mich der Muse hinzugeben – alte Häuser sind so unglaublich inspirierend, finden Sie nicht auch?»
Sie sah nicht aus, als fände sie alte Häuser inspirierend, aber sie lächelte weiterhin verbindlich. Auch sie sehr gut ausgebildet und sehr fassadär.
«Ausserdem habe ich irgendwo gehört, dass im Zusammenhang mit diesem Hotel einmal ein Todesfall passiert sei.»
Sie hob die Augenbrauen. «Hier? Das kann ich mir nicht vorstellen.»
Ich schüttelte den Kopf. «Es ist schon eine Weile her – einige Jahrzehnte sogar. Ein junger Mann sei zu Tode gekommen. Ein Unfall – oder so», ich liess meine Stimme ins Geheimnisvolle abgleiten, «sagt man zumindest.»
Zu meinem Verdruss war sie völlig unbeeindruckt. «Nun, wenn es so lange her ist, dann kann ich es nicht wissen, oder? Das muss früher gewesen sein, vor dem Besitzerwechsel.»
Interessiert hakte ich nach. «Wann war denn dieser Besitzerwechsel?»
Folge 50
Sie zuckte die Achseln. «Genau weiss ich es nicht – vor fünf, sechs Jahren? Oder sogar ein wenig länger?»
«Wissen Sie mehr darüber?»
Ich sah ihr an, dass die Unterhaltung sie zu langweilen begann. «Leider nicht. Ich bin noch nicht lange hier.»
«Gibt es hier auch ältere Mitarbeiter? Angestellte, die schon vor dem Besitzerwechsel hier gearbeitet haben?»
«Wir sind ein sehr junges Team», meinte sie lapidar. «Das gehört zum Konzept – unverbrauchte Frische, verstehen Sie?»
Ich verzog das Gesicht. Das konnte ja heiter werden. Wenn hier tatsächlich nur Frischlinge Dienst taten, dann war ich lackiert.
Schliesslich traf ich eine Entscheidung. «Wäre es allenfalls möglich, dass ich den Hoteldirektor sprechen könnte?»
Luc Zurbuchen empfing mich in einem der reinweissen Konferenzräume des Hotels.
Galant spendierte er mir ein Glas Prosecco, ehe er mich nach meinen Wünschen fragte. Er trug einen reinweissen Anzug, was sonst, und akkurat getrimmtes schwedischblondes Haar. Seine Gesichtsfarbe war auffallend blass. Ich fragte mich, ob er aufgrund des Farbkonzeptes oder seiner Qualifikationen eingestellt worden war.
«Ein Todesfall? Faszinierend. Das muss natürlich vor meiner Zeit gewesen sein.»
Davon ging ich aus, denn der Direktor, so schätzte ich, konnte nicht älter als Ende dreissig sein. Alles an ihm war elegant und präzise. Er erinnerte mich an Steve Losinger, den neuen Klinikdirektor der Klinik Eschenberg. Nur dass dieser im Gegensatz zu Luc Zurbuchen spürbar und authentisch wirkte. Zurbuchen erinnerte mich an Eis. Kalt, glänzend und aalglatt.
«Weit vor Ihrer Zeit, zweifellos», beeilte ich mich zu versichern. «Ich bin sicher, mit Ihnen und dem heutigen Management hat das nichts zu tun. Aber wie ich hörte, hat dieses Hotel eine lange Geschichte. Hiess es nicht früher Weisses Kreuz?»
Zurbuchen lächelte geschmeidig. «Ja, allerdings. Auf dem alten Namen baut ja auch unsere Market Targeting Strategy auf. Pure white, verstehen Sie?» Er sprach die englischen Begriffe mit grauenhaftem Akzent aus.
«Die früheren Besitzer hiessen Weber, nicht wahr?»
«Allerdings. Eine alteingesessene Hotelierfamilie, wie sie im Buche stand. Haben das Hotel über vier Generationen geführt, beachtlich», erklärte Zurbuchen. «Der alte Patron führte den Betrieb jahrzehntelang, bis über das Pensionsalter hinaus, und zwar mit eiserner Hand. Ja nichts Neues beginnen, immer alles so lassen, wie es immer schon war, das war seine Devise. Er nannte es Tradition, ich nenne es verknöchert. Ihm fehlte es an urbaner Finesse, an Stil. Im Grunde war er ein Bauer, ein stolzer, bodenständiger Schweizer, aber ohne Etikette, eine ganz andere Währung von Gastgeber, als heute gefragt ist. Zu seiner Zeit hatte er damit Erfolg, da waren traditionelle Werte und Swissness gefragt, aber später… Dann übernahm sein Sohn. Dieser allerdings», Zurbuchen breitete die Hände aus, «schien für das Business», wieder dieser grauenhafte Akzent, «nun wirklich kein echtes Flair zu haben. Bereits nach wenigen Jahren wurde es ihm zu viel und er wollte verkaufen. Nun ja, das muss man verstehen. Es ist kein einfacher Job, verstehen Sie? Man muss dafür geboren sein.»
Die vorgebliche Bescheidenheit seines Lächelns überzeugte mich nicht.
Trotzdem nickte ich beeindruckt. «Man sieht auf den ersten Blick, dass Sie ein gewandter Gastgeber sind. Aus innerster Überzeugung.»
Zurbuchen grinste geschmeichelt. «Man tut, was man kann.»
«Und Sie haben gar nichts über einen Todesfall in der Familie Weber gehört? Die Geschichte muss ungefähr fünfzig Jahre zurückliegen.»
«Bedaure – von so einer Geschichte habe ich nie etwas gehört. Allerdings ist ein halbes Jahrhundert eine sehr lange Zeit, nicht wahr?»
Ich strahlte ihn an. «Nicht für jemanden, der historische Romane schreibt!», erwiderte ich perlend. «Solche Geschichten sind für eine Schriftstellerin natürlich pures Gold.»
«Natürlich, das verstehe ich», erwiderte Zurbuchen artig.
«Dieser alte Patron, den Sie erwähnt haben – kommt der bisweilen noch her, in sein altes Hotel? Stehen Sie noch in Kontakt?»
Zurbuchen lachte auf. «Oh nein. Der Alte hat seinem Sohn damals dieses Versagen sehr übelgenommen. Für ihn war der Verkauf des Hauses ein Schlag ins Gesicht, ein Affront. Sie kennen diese Männer – Patriarchen alter Schule. Er betrachtete den Erhalt des Hotels als eine Frage der Ehre. Er versuchte damals krampfhaft, seinen Sohn umzustimmen. Im Rahmen der Überschreibung habe es eine besonders unschöne Szene gegeben – der neue Besitzer hatte beinahe befürchtet, der alte Herr würde einem Herzinfarkt erliegen. Als das Geschäft unter Dach und Fach war, zog der alte Weber sich zurück, voller Groll und Vorwurf. Wie ich hörte, habe er nie wieder ein Wort mit seinem Sohn gewechselt. Er lebe isoliert in einem kleinen Haus, irgendwo in Richtung Berner Oberland. Tragisch, nicht wahr?»
«Denken Sie, er wäre bereit, mit mir über die Vergangenheit des Hotels zu sprechen? Für meine Recherche, meine ich», fügte ich sonnig hinzu.
«Kaum», beschied mir Zurbuchen lapidar. «Ich fürchte, er würde Sie hinauswerfen. Ein alter Starrkopf. Ich fürchte, er würde auch mich hinauswerfen, wenn ich ihn für Sie fragen würde, wissen Sie? Für ihn bin ich der Feind, der verlängerte Arm des neuen Besitzers, der seiner Familie das Erbe gestohlen hat, der alles verändert und damit verdorben hat. Lächerlich.» Er schüttelte ungläubig den Kopf.
«Wissen Sie, wie der alte Weber mit Vornamen heisst?», fragte ich milde.
Folge 51
Zurbuchen kratzte sich am Kopf, eine ungehobelte Geste, die ihn mir ein wenig sympathischer machte.
«Keine Ahnung. Aber wie gesagt - ich glaube nicht, dass er Ihnen helfen würde, also spielt es keine grosse Rolle. Kein freundlicher Mensch. Ganz und gar nicht.»
Später, beim Abendessen, liess ich das Wenige, was ich herausgefunden hatte, Revue passieren. Ich war im richtigen Hotel, immerhin. Der alte Patron, da war ich sicher, würde mir etwas über den Tod von Erich Weber erzählen können. Ob er der ältere Bruder von Erich war, den Anna erwähnt hatte? Wahrscheinlich. Ein Gespräch mit ihm würde sich auf jeden Fall lohnen.
Nur - zuerst musste ich ihn finden, und dafür brauchte ich mehr Informationen. Und ihn dann zum Sprechen bringen. Gemäss Luc Zurbuchen ein Ding der Unmöglichkeit.
Ich schob mir einen Bissen des hervorragenden Rindsfilets in den Mund - zum Glück hatte das allgegenwärtige Farbkonzept des Hotels vor der Küche Halt gemacht - und fasste gleichzeitig die kümmerlichen Erfolge meiner Nachforschungen in einer SMS an Martin und Erich zusammen.
Die Antworten der beiden, die kurz danach eintrafen, waren wenig begeistert. Undankbar, fand ich.
Ich verbrachte eine geruhsame Nacht, genoss es, am Morgen danach nicht wie üblich kurz nach sechs Uhr aufstehen zu müssen. Um halb neun bummelte ich in Richtung Speisesaal, voller Vorfreude auf das als besonders üppig angepriesene Frühstücksbuffet - es hatte durchaus seine Vorteile, private Ermittlerin zu sein.
«Ah, Frau Bergen», meinte die Bedienung am Eingang des Raumes erfreut. «Da sind Sie ja. Ihre Begleitung wartet bereits.»Ich schob die Brauen zusammen. «Begleitung?»Lächelnd wies die Bedienung auf einen Tisch am Fenster.
Ungläubig starrte ich die Frau an, die dort vor einer Kanne Kaffee sass und, sobald sie meiner ansichtig wurde, mit einer gemessenen Geste die Hand hob. Anna Dubach.
Kapitel 14
«Was machst du hier?», fauchte ich halblaut, während ich mich ihr gegenüber am Tisch niederliess.
«Ich frühstücke», erwiderte Anna Dubach reserviert. «Und zwar seit halb acht - ich hätte gedacht, dass eine berufstätige Frau wie du ein wenig früher aufsteht.» Vorwurfsvoll schüttelte sie den Kopf.
«Du solltest in der Klinik sein», zischte ich. «Um deiner Sicherheit willen, du erinnerst dich vielleicht? Aus diesem Grund haben wir dich überhaupt erst auf der Station einquartiert. Und du läufst quer durch Bern und marschierst direkt in die Höhle des Löwen? Ich fasse es nicht.»
Anna nahm einen Schluck Kaffee und tupfte sich den Mund dann penibel mit der Stoffserviette ab.
«Ich musste nach dem Rechten sehen», meinte sie gelassen. «Eric hat mir im Detail berichtet, was du hier so getrieben hast. Da war mir klar, dass du meine Hilfe brauchst.»
«Ich? Deine Hilfe brauchen?» Ich raufte mir beidhändig die Haare. «Wie bist du überhaupt von der Station weggekommen? Immerhin einer geschlossenen Akutstation.»
«Ich habe morgens um halb sechs den Nachtarzt angefordert», berichtete Anna unbeeindruckt. «Ein sehr netter junger Mann. Er hat nach kurzer Diskussion eingesehen, dass ein wenig Ausgang wichtig für mich ist, und hat mir eine Ausnahme gewährt, obwohl ich im Grunde als Patientin die Klinik nicht verlassen sollte. Er wird dich noch anrufen - ich habe ihm deine private Handynummer gegeben, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. Ich habe gesagt, es gehe in Ordnung, du würdest es ihm bestätigen.»Ich fand keine Worte. Als in ebendiesem Moment die Bedienung herantrat und mich fragte, ob ich auch gerne Kaffee hätte, konnte ich nur sprachlos nicken.
«Du solltest etwas essen», sagte Anna. «Die Croissants sind himmlisch.»
Es machte nichts besser, dass in exakt diesem Moment mein Mobiltelefon klingelte. Ich warf einen ahnungsvollen Blick aufs Display - die Hauptnummer der Klinik Eschenberg.
Und schon ging es los. Während ich mir alle Mühe gab, Mirko Babic, dem aufgebrachten Assistenzarzt der geschlossenen geriatrischen Akutstation, auf der Anna in diesem Augenblick eigentlich hätte sein sollen, zu erklären, warum seine Patientin weniger als vierundzwanzig Stunden nach ihrer notfallmässigen Aufnahme mit meiner angeblichen Billigung schon Ausgang bezogen hatte - ich versuchte, mich bei meinem verärgerten Kollegen mit fachlich verbrämten Schlagworten wie Alltagserprobung und realitätsnahe Expositionsbehandlung durchzumogeln - löffelte Anna unbeeindruckt und betont genussvoll ein Früchtemüsli. Meine vorwurfsvollen Blicke ignorierte sie komplett.
Als ich den Assistenzarzt endlich einigermassen besänftigt und den Anruf beendet hatte, fiel ich über Anna her.
«Du hast mich in eine höchst unangenehme Lage gebracht, bist du dir dessen bewusst? Ich habe mich mit deiner Einweisung in die Klinik durchaus exponiert, und mit solchen Aktionen bringst du mich in Misskredit. Was, wenn der Assistenzarzt sich auf der Chefetage über mein Verhalten beschwert? Wie soll ich mich da rausreden, bitte schön?»
«Dir wird schon etwas einfallen», erwiderte Anna optimistisch. «Und der Zweck heiligt die Mittel. Ich konnte unmöglich in dieser Klinik herumsitzen und mich langweilen, wenn so eindeutig ist, dass du hier überfordert bist. Da musste ich einschreiten.» Ich rang um Geduld.
Folge 52
«Und was, bitte schön, gedenkst du zu unternehmen?», zischte ich. «Ich bin gespannt auf deine genialen Einfälle.»
«Du solltest etwas essen», entgegnete Anna. «Du wirst deine Kräfte noch brauchen. Ich werde dir bei der Ermittlung helfen. Wie üblich hast du am völlig falschen Ende angesetzt. Aber keine Sorge, jetzt bin ich ja hier.»
Mein wütendes Funkeln gelassen hinnehmend, lächelte sie mich heiter an.
Nach dem Frühstück bestand Anna darauf, mich auf mein Zimmer zu begleiten.
Sie hatte kein Wort darüber verloren, was sie vorhatte, ungeachtet meiner drängenden Fragen, und so konnte ich mir auch keinen Reim darauf machen, als sie meine Zimmertür unbeachtet liess und weiter den Hotelgang entlangmarschierte, sich suchend umschauend.
«Nein, nicht hier», machte sie nur.
Dann bestand sie darauf, ein Stockwerk höher zu steigen. Ich stützte sie, während sie langsam die Treppe erklomm – ihre Hüfte, so erklärte sie mir, sei nicht mehr die Beste.
Im dritten Stock marschierte sie erneut den langen Gang hinunter. Als wir eine offene Zimmertür erblickten, vor welcher der obligate Putz- und Wäschewagen des Hausdienstes stand, hielt sie zufrieden inne.
«Verzeihen Sie?», rief Anna mit kräftiger Stimme in den offenen Raum hinein.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, und in der Türöffnung des zimmereigenen Badezimmers erschien eine gedrungene weibliche Gestalt, eine Frau mittleren Alters in der schlechtsitzenden Berufskleidung eines Zimmermädchens.
«Kann ich Ihnen helfen?», fragte die Frau mit schwerem Akzent. Ich tippte auf eine Portugiesin. Anna lächelte liebenswürdig. «Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie bei der Arbeit stören. Ich bin sicher, Sie haben sehr viel zu tun. Reinweisse Räume und Textilien sauber zu halten, muss unglaublich anstrengend sein, stelle ich mir vor.»
Die Frau nickte lebhaft. «Das stimmt, und wie!»
Anna lehnte sich vertraulich vor. «Ich bin sicher, es war ein Mann, der auf die Idee gekommen ist, ein Hotel in so hellen Tönen einzurichten. Ein Mann, der nie in seinem Leben etwas putzen musste, nicht wahr?»
Die Frau lachte auf. «Muss so sein – was sonst? Sicher keine Frau!»
«Warum ich Sie stören muss…», fuhr Anna fort. «Ich suche jemanden, der schon sehr lange in diesem Hotel arbeitet, denn ich möchte gerne eine Auskunft. Über die früheren Besitzer des Hotels, als es noch ‹Weisses Kreuz› hiess. Die Familie Weber. Als ich Sie gesehen habe, dachte ich mir gleich: Das ist eine richtig tüchtige, erfahrene Angestellte, die ist hier sicher schon sehr lange beschäftigt. Habe ich Recht?»
Ein breites Strahlen breitete sich auf dem Gesicht unseres Gegenübers aus. «Seit elf Jahren schon. Und man war immer sehr zufrieden mit mir! Natürlich erinnere ich mich noch an den früheren Chef. Er hat jeweils persönlich Kontrollgänge durch das Hotel gemacht, und wehe, die Zimmer waren nicht tipptopp! Dann konnte er richtig böse werden. Aber bei mir hatte er nie etwas auszusetzen. ‹Teresa›, sagte er immer, ‹Sie sind eine Perle›, jawohl!», sagte sie mit sichtlichem Stolz.
«Daran zweifle ich keinen Moment», bekräftigte Anna. «Man merkt sofort, Sie verstehen etwas von der Sache. Sagen Sie – wie hiess der alte Chef mit Vornamen?»
«Maximilian Weber», kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. «Wir nannten ihn unter uns den alten Max. Aber hören durfte er das nie! Ins Gesicht haben wir immer ganz respektvoll Herr Direktor Weber zu ihm gesagt. Ach, das waren noch andere Zeiten damals…»
Insgeheim beeindruckt über Annas Ermittlungserfolge, trat ich dezent einige Schritte zurück, zückte mein Mobiltelefon und suchte auf dem elektronischen Telefonbuch nach «Max Weber». Es gab über siebzig Einträge. Aber, und diese Erkenntnis elektrisierte mich, nur zwei im Kanton Bern.
Rasch steckte ich mein Telefon wieder weg und lauschte der Fortsetzung von Annas Gespräch.
«Ich habe einen Verwandten von Max Weber gekannt, wahrscheinlich seinen Bruder. Vor fünfzig Jahren», erzählte sie gerade. «Er ist damals leider verunglückt.» Teresa verzog das Gesicht. «Traurig.»
«Sie wissen nichts über die Geschichte?»
Teresa machte eine beredete, ausschweifende Geste. «Leider nein – fünfzig Jahre, oje. Das ist lange, lange her.»
Anna runzelte die Stirn. «Wer von Ihren Kolleginnen im Hausdienst arbeitet denn am längsten hier im Hotel?»
Die Frau verzog nachdenklich das Gesicht. «Das muss wohl Gertrud sein. Sie wird nächsten Monat pensioniert. Und freut sich schon darauf! Aber fünfzig Jahre», sie lachte erneut, «werden das kaum gewesen sein. Vielleicht dreissig, nicht mehr.»
«Das ist doch schon ganz beachtlich. Arbeitet Gertrud denn heute?», fragte Anna nach.
«Ja, ich habe sie eben noch gesehen. Sie macht den ersten Stock.»
«Wunderbar. Danke, Teresa. Sie waren mir eine unschätzbare Hilfe», meinte Anna herzlich.
Dann nickte sie der Frau zum Abschied zu, nahm mich am Ellbogen und führte mich davon.
«Nehmen wir den Lift», meinte sie. «Meine Beine werden langsam müde.»
Gehorsam rief ich den Aufzug.
Folge 53
Kaum hatten wir ihn betreten, setzte Anna zu einer Lektion an. «Siehst du, Kassandra. Du hast am falschen Ort gefragt. Hoteldirektoren, Rezeptionistinnen, Kellner – was wissen die schon? Alles junge Leute, modern, aber ohne Erfahrung. Die Frauen im Hausdienst sind es, die die Geschichte eines Betriebs kennen. Sie arbeiten im Verborgenen, niemand sieht sie, niemand beachtet sie. Aber sie, sie sehen alles. Sie wissen alles, und sie reden. Und», dozierend hob sie den Zeigefinger, «häufig arbeiten sie viel länger in einem Hotel als alle anderen Berufsgattungen. Du hast dich blenden lassen. Siehst du jetzt, wie wichtig es war, dass ich gekommen bin?»
«Du hättest», entgegnete ich ungehalten, «mir ja auch einfach einen Tipp geben können. Ich hätte auch selbst mit Teresa sprechen können.»
«Du», erwiderte Anna streng, «hättest womöglich nicht den richtigen Ton getroffen. Du mit deinem gelehrten Gehabe. Ah, hier sind wir ja.»
Und ohne meine beleidigte Miene zur Kenntnis zu nehmen, trat sie aus dem Lift in den Gang der ersten Etage.
Es dauerte nicht lange, bis wir auch Gertruds Hausdienst-Wagen fanden.
Erneut war es Anna, die Gertrud ansprach, die das Eis brach und der ernsten, sehnigen Frau mit den kurzen, ohne Geschick in einem Aubergineton gefärbten Haaren mit sichtbarem grauem Ansatz und den scharfen Augen ein Lächeln entlockte.
Womöglich, dachte ich entmutigt, hatte Anna ja Recht, und mir als Akademikerin fehlte der natürliche Zugang zu diesen einfachen, aber hart arbeitenden und zähen Frauen.
Der Gedanke bedrückte mich. Was sagte mir das über mich selbst? War ich tatsächlich so blasiert und abgehoben?
«Erich Weber, sagen Sie?», meinte Gertrud eben. «Ich selbst habe ihn nie gekannt. Aber natürlich habe ich die Geschichte gehört. Von der alten Hausdame damals, als ich noch ganz jung und frisch im Betrieb war. Ganz am Anfang. Schlimme Sache, das. Ich glaube, der alte Max war nach dieser Sache nicht mehr der Gleiche. Hat ihn hart und ruppig gemacht. Muss ein grosser Schock für ihn gewesen sein. Er war ja schliesslich dabei.»
«Ach ja?», ermutigte Anna sie.
Getrud nickte grimmig. «Die beiden waren auf einer Wanderung. Weit oben in den Bergen. Haben immer solche Dinge gemacht, waren halt sportlich die beiden – kein Wunder, bei so jungen Burschen! Die mögen Abenteuer. Der jüngere Bruder, Erich, ist an einer gefährlichen Stelle ausgerutscht und viele Dutzend Meter in die Tiefe gestürzt. War sofort tot. Max habe verzweifelt versucht, zu ihm hinunterzuklettern, und habe sich dabei noch einen Knöchel gebrochen. Aber es war alles umsonst. Tot, der Erich, einfach so. Und das, nachdem kaum ein Jahr zuvor schon die Mutter der beiden gestorben war. Dabei war die auch noch jung gewesen! Eine feine Dame, aus dem Ausland. Irgendwas Östliches. Sehr reiche Familie, mussten aus ihrem Heimatland fliehen. Wegen dem Krieg. Und dann stirbt sie hier, in der sicheren Schweiz, an einem Hirnschlag. Ganz schlimm, wirklich. Ganz schlimm. So viele Schicksalsschläge.»
Anna war einen Moment sprachlos und bewegt.
Ich übernahm. «Bestanden jemals Zweifel daran, dass der Tod von Erich Weber ein Unfall war?», fragte ich sachte.
Gertrud warf mir einen misstrauischen Blick zu. «Was meinen Sie, dass der sich das Leben genommen haben soll? Aber sicher nicht, nicht der Erich. Das muss ein ganz Guter gewesen sein, wie man sich erzählte. Ein sonniger Jüngling, freundlich, ein wenig leger vielleicht. Ganz anders als der alte Max. Eine Frohnatur, der Erich.»
«Dann hat niemand», ich räusperte mich unter dem strengen Blick von Getrud unbehaglich, «je den Verdacht geäussert, dass jemand Erich in den Abgrund gestossen haben könnte?»
«Ja, wer sollte das denn gewesen sein, wenn nicht der alte Max?», rief Gertrud empört. «War ja sonst niemand dort, an dem Tag! Wie kommen Sie denn auf solche Ideen? Sicher nicht! Die standen sich doch nahe, die Brüder! So etwas Niederträchtiges habe ich noch nie gehört!»
Anna mass mich mit einem strafenden Blick, ehe sie sich wieder Getrud zuwandte.
«Seien Sie meiner jungen Freundin nicht böse, Getrud. Sie hat eine blühende Fantasie. Natürlich würde niemand so etwas vermuten. Die jungen Frauen heute lesen einfach zu viele dieser Kriminalromane, oder?»
«Das will ich meinen», grollte Getrud. «So etwas Niederträchtiges.»
«Es war pures Glück», beharrte ich, als ich mit Anna neben mir in meinem Auto sass.
Ich hatte meine Sachen gepackt, bezahlt und ausgecheckt und war eben dabei, mit Anna zurück in die Klinik Eschenberg zu fahren.
«Du hattest Schwein, dass Teresa etwas wusste, dass sie so offen zu dir war, dass Getrud schon so lange im Betrieb arbeitete und gerade Dienst hatte. Eine Verkettung glücklicher Zufälle, nichts weiter. Gar kein Grund, so selbstgefällig zu grinsen.»
Anna tätschelte mir beiläufig den Arm. «Aber ja, meine Liebe. Natürlich.»
Das machte es noch schlimmer. «Können wir sicher sein, dass der Mann in Amsoldingen der richtige Max Weber ist? Den, den wir suchen?», fragte Anna dann.
«Ich denke schon», erwiderte ich, nach wie vor ein wenig gekränkt. «Wie gesagt – es gibt im Telefonbuch erfreulicherweise nur zwei Männer mit den Namen Max Weber im Kanton Bern. Einer davon wohnt in Ostermundigen, in einem grossen Wohnblock – und der Hoteldirektor hat mir eigens erzählt, der frühere Patron wohne isoliert in einem kleinen Haus in Richtung Berner Oberland. Da passt die Adresse in Amsoldingen viel besser – draussen in der Natur, kaum Nachbarschaft, wenn man Google Maps glauben darf. Es könnte natürlich sein, dass der richtige Max Weber, der, den wir suchen, gar nicht im Telefonbuch steht, dann könnten wir von vorne anfangen. Aber ich finde, die Adresse in Amsoldingen ist einen Versuch wert.»
Folge 54
Anna nickte geistesabwesend. «Das klingt vernünftig.» Sie starrte eine Weile aus dem Seitenfenster. «Ich will mit ihm reden», sagte sie dann nur.
Ich warf ihr einen entrüsteten Blick zu. «Wie, mit ihm reden – du? Aber auf keinen Fall, du ganz bestimmt nicht. Viel zu riskant!»
«Ich kann sehr gut auf mich aufpassen, Kassandra», meinte sie gelassen.
«Kommt überhaupt nicht in Frage», beschied ich kategorisch. «Ich gebe zu, im Hotel warst du grossartig. Du hast eine Menge herausgefunden, und ja», ich seufzte tief, «du hast mehr geschafft als ich. Aber das war eine zivilisierte Aufgabe, weitestgehend harmlos. Ideal für eine ältere Dame mit einem Herz für Zimmermädchen. Zu versuchen, den cholerischen Max Weber auszuhorchen, der dem Vernehmen nach ein übles Temperament hat und als Einziger am Tatort war, als dein Erich in den Tod gestürzt ist, das ist allerdings eine ganz andere Sache. Das überlässt du bitte uns. Denn wenn du Recht hast mit deinem Verdacht, wenn der Tod von Erich tatsächlich kein Unfall war, dann kommt gemäss dem, was diese Gertrud uns erzählt hat, nur einer als Täter in Frage: sein Bruder. Dann dürfen wir auch davon ausgehen, dass der hinter den Versuchen steckt, dir den Ring abzunehmen. Oder zumindest hat er die Angriffe in Auftrag gegeben – wer sonst? Und er wird keine Freude haben, zu erfahren, dass nach fünfzig Jahren jemand daherkommt und die Geschichte von dem Unfall hinterfragt. Dieser Mann könnte gefährlich werden, egal, wie alt er ist. Und mir müssen davon ausgehen, dass er nicht allein handelt. Sprich: Du stehst zurück und lässt uns freie Hand.»
«Versteh doch», beharrte Anna. «Es ist meine Sache. Ich muss mit ihm sprechen. Das bin ich mir schuldig.»
Unbeugsam schüttelte ich den Kopf. «Mir bist du schuldig, dass du dich jetzt in der Klinik stillhältst. Ab jetzt könnte es brisant werden, und da will ich dich in Sicherheit und aus dem Weg wissen. Wir fahren jetzt direkt in die Klinik – ich zur Arbeit, du auf deine Station. Und dann werde ich mich mit Martin zusammensetzen und das weitere Vorgehen planen. Schliesslich», schloss ich ein wenig pompös, «haben wir eine Menge Erfahrung und kennen uns mit dergleichen aus.»
Kapitel 15
«Stopp», keuchte ich, nach Luft ringend. «Ich brauche… eine Pause.» Mühsam brachte ich mein Fahrrad am Strassenrand zum Stehen und stützte mich röchelnd auf den Lenker.
Martin Rychener, ein gutes Dutzend Meter vor mir, hielt sichtlich widerwillig an. «Es macht keinen Sinn, mitten in der Steigung stehenzubleiben», rief er mir über die Schulter zu. «Dann wird es viel schwieriger, wieder in Gang zu kommen!»
Mir fehlte der Atem für eine scharfe Replik. Also beschränkte ich mich auf eine rüde Geste und konzentrierte mich anderweitig darauf, das Zittern meiner Beine unter Kontrolle zu bringen.
Martin runzelte die Stirn, drehte dann aber sein Luxus-Mountainbike gottergeben um und rollte zu mir herunter.
«Es ist nicht mehr weit», versicherte er mir.
«Das sagst du schon seit Stunden», japste ich.
Martin schüttelte ungläubig den Kopf. «Ich bitte dich, Kassandra. Wir sind noch nicht einmal eine Stunde unterwegs.»
«Was allerdings», langsam kam ich wieder zu Kräften, was auch meine Widerborstigkeit deutlich stärkte, «überhaupt nicht nötig gewesen wäre. Wir hätten schnurstracks zu der Adresse fahren können, statt diesen absurden Umweg zu radeln. Ich sehe überhaupt nicht ein, was das soll. Und du», anklagend wies ich mit dem Finger auf ihn, «hüllst dich andauernd in mysteriöses Stillschweigen, statt mir endlich zu sagen, was du vorhast. Warum um Himmels Willen durchqueren wir das gesamte Thuner Westamt, ehe wir unsere eigentliche Mission angehen?»
Tatsächlich hatte Martin Rychener von Anfang an ein grosses Geheimnis um seinen Plan gemacht. Wir hatten uns am Tag zuvor in der Klinik in seinem Büro zusammengesetzt, um Kriegsrat zu halten. Wir wollten, darüber waren wir uns einig gewesen, einen Weg finden, möglichst unauffällig mit dem streitbaren alten Ex-Patron ins Gespräch zu kommen. Eine nicht-offensive Zugangsweise, um unsere wahren Absichten so lange wie möglich unter Verschluss zu halten, das war unsere Arbeitshypothese gewesen. Nur war es nicht ganz einfach gewesen, eine stimmige Vorgehensweise zu erarbeiten.
Wir wussten kaum etwas über Max Weber, ausser, dass er seine Geschäfte niedergelegt hatte und isoliert und zurückgezogen lebte. Das reduzierte die denkbaren Orte, an denen ein zufälliges Zusammentreffen zuverlässig inszeniert werden könnte, auf exakt einen: sein Haus. So es denn, das kam komplizierend hinzu, wirklich der richtige Max Weber war, der an dieser Adresse im Bezirk Amsoldingen lebte. Und an der Frage, wie an einer so abgelegenen Privatadresse ein glaubwürdiger Zufallskontakt veranstaltet werden könnte, hatten wir uns eine ganze Weile die Zähne ausgebissen.
Schliesslich aber hatten Martins Augen aufgeleuchtet. «Wir beide, meine Liebe, werden dieses Wochenende gemeinsam eine Fahrradtour durchs Thuner Westamt machen», hatte er mit unverhohlener Selbstgerechtigkeit im Blick verkündet. «Und wir werden exakt vor dem Haus unserer Zielperson ein tragisches Missgeschick erleiden, das es erforderlich macht, Herrn Weber in seiner Privatsphäre zu stören und ihn zu bitten, sein Telefon benützen zu dürfen, um Hilfe zu organisieren.»
Folge 55
Ich hatte begeistert zugestimmt, aber das eigenartige, leicht schadenfreudige Glimmen in Martins Blick hatte mich gleichwohl misstrauisch gestimmt.
«Mein Fahrrad ist nicht besonders tourentauglich», hatte ich vorsichtig eingewandt, «und die Steghalte», die langgezogene, bösartige Steigung zwischen Thun-Allmendigen und Amsoldingen, «wäre zu viel für meinen alten Dreigänger. Am besten laden wir unsere Fahrräder in dein Auto und parkieren ganz in der Nähe von Webers Haus. Das reicht, um den Anschein einer Fahrradtour zu erwecken.»
Das grünliche Glimmen in Martins Blick hatte sich merklich verstärkt. «Keine Sorge, Kassandra», hatte er liebenswürdig erwidert. «Ausrüstung und Route darfst du getrost meine Sorge sein lassen.»
Und tatsächlich war er bereits am nächsten Samstagnachmittag abmachungsgemäss vor unserem Haus vorgefahren, und auf dem Fahrradträger hinten an seinem Wagen waren nicht ein, sondern zwei schnittige Mountainbikes festgeschnallt gewesen.
«Ich entführe Kassandra auf eine Biketour», hatte Martin dem verwunderten Marc fröhlich verkündet. «Sie hat mir von deinen Bemühungen berichtet, einen gesünderen Lebensstil aufzubauen, und da ich finde, dass Fahrradfahren die beste Art von Bewegung überhaupt darstellt, wollte ich ihr einmal eine Schnuppertour ermöglichen. Selma», mit ausschweifender Geste hatte er auf das bedrohlich wirkende Damenbike gewiesen, das ich mit unverhohlener Besorgnis gemustert hatte, «stellt Kassandra nur zu gerne ihre persönliche Ausrüstung zur Verfügung, inklusive Helm, Radsporthosen und Handschuhen. Wir können gleich starten.»
Marc hatte Martins Idee grossartig gefunden, natürlich. Nicht nur, dass ich mit dieser Tour getreulich sein Credo von Sportlichkeit und Gesundheitsbewusstsein umsetzen würde, nein - ich würde auch aus dem Weg sein, wenn er sich für seinen zweiten Kochkursabend mit Linda rüstete, und würde, wie ich mir bitter vor Augen gehalten hatte, nicht mitbekommen, wie er sein bestes Hemd anzog und das teuerste Aftershave benutzte.
Martin hatte gestrahlt, Marc war zufrieden gewesen.
Und ich hatte gewusst, dass ich in echten Schwierigkeiten steckte.
«Du sagst mir jetzt, warum du mich mutwillig diesen Qualen aussetzt, oder ich fahre keinen einzigen Meter mehr!», forderte ich verärgert.
«Qualen? Das kann nicht dein Ernst sein. Es ist wunderschönes Wetter, ein strahlender Wintersamstag. Die Aussicht ist spektakulär, die Landschaft atemberaubend - dort, in der Ferne, schau nur: Eiger, Mönch und Jungfrau, in reinweissem Schnee vor strahlend blauem Himmel. Was könnte herrlicher sein?»
«Es ist bitterkalt, kaum über null Grad! Du hast mich über holprige, hüftbreite Waldwege getrieben, über kaum erkennbare Feldpfade voller tückischer Schlaglöcher und matschiger Untiefen. Und dann diese grauenhaften Steigungen! Schau mich an», rief ich anklagend aus und streckte ich dramatischer Gebärde beide Hände aus. «Ich bin gleichzeitig überhitzt und durchfroren! Meine Hände und Beine zittern. Ich habe Dreckspritzer an den Hosenbeinen, Selmas Edel-Hosenbeinen übrigens, die mir viel zu elegant und windschnittig sind, und einen üblen Kratzer am Handgelenk, wo mich dieser fiese Ast getroffen hat. Ich bin ein Wrack!»
«Exakt», meinte Martin nur. «Und genau das war die Idee dahinter.»
«Wie bitte?»
«Schau, Kassandra», erklärte er weise. «Wir wissen beide, dass unser Plan nicht genial ist. Der Vorwand mit dem technischen Defekt an deinem Bike ist ein wenig dünn. Wir sind zwei durchaus moderne Menschen, und es ist wenig glaubwürdig, dass wir gemeinsam eine Fahrradtour unternehmen würden, ohne dass zumindest einer von uns sein Mobiltelefon für Notfälle dabeihat. Und weil die Geschichte recht kümmerlich ist, müssen wir die Glaubwürdigkeit anderweitig reinholen.»
«Glaubwürdigkeit?», echote ich mit hohler Stimme.
«Es war klar», fuhr Martin nickend fort, «dass eine längere Tour dich körperlich an deine Grenzen bringen würde. Und dass man dir das ansehen würde. Und genau das», er strahlte, «wird verhindern, dass der alte Weber an deinem Anliegen zweifelt. Wer so fertig aussieht wie du, kann nichts Böses im Schilde führen.»
Mein Mund klappte auf.
«Das ist doch die Höhe», protestierte ich empört. «Du quälst mich, um die Glaubwürdigkeit unseres Auftritts zu erhöhen? Die Glaubwürdigkeit? Warte», ich hieb nach ihm aus, «dir will ich Glaubwürdigkeit geben, dir!»
Martin lachte auf, duckte sich rasch, um meinem Schlag zu entgehen, und setzte sein Fahrrad dann wieder in Bewegung.
«Fang mich doch, fang mich doch!», äffte er dämlich, während er mühelos ein paar Meter Sicherheitsdistanz zwischen uns brachte.
Ich stieg auf und trat, belebt durch Zorn und Empörung, entschieden in die Pedale, um ihn einzuholen - natürlich vergebens.
«Es ist nicht mehr weit», rief Martin, der mir mittlerweile schon wieder davongefahren war, über seine Schulter. «Aber jetzt kein Tempo einbüssen! Wir wollen doch diese tomatenrote Gesichtsfarbe und die triefende Nase nicht aufs Spiel setzen! Alles für die Ermittlung! Schneller, Kassandra! Schneller!»
Zehn Minuten später kam das gesuchte Haus in Sichtweite.
Wir befanden uns innerhalb der Grenzlinien von Amsoldingen, aber doch recht weit vom Dorfkern entfernt. Rings um uns herum nichts als Weite - freie Weideflächen, Felder, einige Obstwiesen, ein kleiner See.
Folge 56
Das Haus des mutmasslichen Max Weber war ein schöner alter Bau aus dunklem Holz, recht klein, ein wenig gedrungen und tatsächlich sehr isoliert stehend. Einen Steinwurf entfernt fand sich ein zweites, grösseres Haus, wahrscheinlich ein ehemaliger Bauernhof.
Aber sonst – nichts.
Im Sommer musste es hier lieblich sein, grün und saftig. Jetzt hingegen, im Winter, hatte die Einsamkeit dieser beiden Häuser etwas Beklemmendes. Ungeachtet des wolkenlosen Himmels begann bereits die Dämmerung, und die dunkelblauen Schatten der vor uns aufragenden Stockhornkette tasteten drohend nach uns und verhiessen Frost und eisige Winde. Der Tag begann sich seinem Ende zuzuneigen.
Ich warf einen raschen Blick auf die Fassade des Weberschen Hauses – tatsächlich, hinter einigen Fenstern brannte ein trübes Licht. Womöglich lachte uns das Glück.
«Jetzt», murmelte Martin, und ich verriss meinen Lenker nach links, stiess, wie ich fand, einen durchaus überzeugenden überraschten Aufschrei aus und kam stolpernd zum Stillstand.
«Was ist?», fragte Martin mit erhobener Stimme.
«Keine Ahnung», erwiderte ich mit besorgt gerunzelter Stirn. «Irgendetwas stimmt nicht mit der Lenkung – es war, als wäre ich gegen einen Stein gefahren. Ganz komisch.»
Martin stieg von seinem Fahrrad ab, beugte sich zu meinem Vorderrad hinunter, rüttelte probehalber am Reifen und setzte dann eine bedenkliche Miene auf. «Könnte die Achse sein», sagte er gut vernehmlich. «Sieht gar nicht gut aus.»
«Aber ich kann schon weiterfahren, oder?», fragte ich in getreulicher Befolgung unseres vorher vereinbarten Drehbuchs.
Martin schüttelte bedauernd den Kopf. «Viel zu riskant. Wir brauchen Hilfe. Hast du dein Handy dabei?»
«Wie, ich dachte, du würdest deines mitnehmen?», versetzte ich vorwurfsvoll.
«Das gibt es doch nicht – keiner von uns hat ein Telefon dabei? So ein Scheiss!», rief Martin aus. Dann blickte er suchend um sich. «Uns bleibt nichts anderes übrig, wir müssen in dem Haus da fragen, ob wir telefonieren können. Mach du das mal, ja? Ich schaue einstweilen, ob ich die Achse notdürftig stabilisieren kann.»
Brav marschierte ich, meine Beine nach wie vor steif von der ungewohnten Anstrengung, zum Haus, während Martin sich erneut zu meinem Fahrrad hinunterbeugte und daran herumwerkelte – mit Handgriffen, die oberflächlich betrachtet sachkundig aussahen, im Grunde aber völlig sinnentleert waren, wie ich sehr wohl wusste.
Mit zusammengekniffenen Augen – das Tageslicht schwand tatsächlich schon – entzifferte ich die handgeschriebene Aufschrift über dem Klingelschild.
M. Weber.
Na also.
Ich drückte die Klingel und spürte, wie mein Herz gegen meine Rippen schlug.
Eine ganze Weile passierte gar nichts. Keine Bewegung hinter den Fenstern, kein Geräusch. Kurz entschlossen drückte ich noch einmal auf die Klingel, länger diesmal, kräftiger.
Nach einer halben Minute glaubte ich, Schritte im Haus zu hören.
Dann schwang die Tür auf.
«Ja?»
Die Gestalt, die ich im Halbdunkel des Hauses nur notdürftig erkennen konnte, ragte gross und breit vor mir auf, auf einen Gehstock gestützt, aber trotzdem, ein imposanter Mann. Ein grollender Bariton, ein scharfkantiges, grantiges Gesicht, tief gefurcht.
Er war es. Ich hatte im Zuge meiner Internetrecherchen ein altes Foto von Max Weber gefunden. Es war einige Jahrzehnte alt gewesen, aber doch bestand kein Zweifel. Wir hatten Erich Webers Bruder gefunden.
«Bitte verzeihen Sie die Störung», setzte ich zum Sprechen an, ein wenig nervös unter dem finsteren Blick meines Gegenübers. «Mein Kollege und ich», ich wies mit beredter Geste hinter mir auf die Strasse, und Martin, noch immer in der Hocke und an meinem Fahrrad zugange, hob grüssend die Hand, «sind eben an Ihrem Haus vorbeigefahren, als etwas an meinem Fahrrad kaputtgegangen ist. Mein Kollege meint, es könnte die Achse sein – ich selbst», ich lachte charmant auf, «verstehe leider nichts davon.»
Max Weber erwiderte nichts. Unverwandt starrte er mich an, und es war kein einladender Blick.
Ich befeuchtete meine Lippen mit der Zunge. «Wie der Zufall so spielt, haben wir beide unsere Mobiltelefone zu Hause gelassen – so etwas Blödes. Dürfte ich allenfalls bei Ihnen telefonieren, um Hilfe zu rufen? Ich würde Ihre Unkosten natürlich erstatten.»
Einen Moment dachte ich, Max Weber würde mir die Türe vor der Nase zuknallen, derart stark war die Welle von Unwillen, die mir entgegenschlug.
«Bitte», fügte ich mit lieblichem Augenaufschlag hinzu.
Er musterte mich verdriesslich, von oben bis unten, und ich gab mir alle Mühe, in Selmas dünnem, verdrecktem Sportdress erschöpft, zerbrechlich und harmlos zu wirken.
«Na gut», meinte er schliesslich übellaunig, drehte sich um und verschwand im Haus, was ich als implizite Einladung verstand, ihm zu folgen.
Ich wechselte einen raschen Blick mit Martin, der mir ermutigend zunickte, und betrat dann das Haus.
«Soll ich die Türe schliessen, wegen der Kälte?», fragte ich rücksichtsvoll.
Folge 57
Weber grunzte zustimmend, hielt aber nicht an, um auf mich zu warten, sondern ging mit schweren Schritten durch einen düsteren Gang in ein ebensolches Wohnzimmer voran, das rechte Bein ein wenig nachziehend, auf seinen Stock gestützt.
Ich schloss rasch die Tür, trabte ihm dann hinterher.
«Haben Sie Hüftprobleme?», fragte ich anteilnehmend, um die Stimmung ein wenig aufzulockern.
«Gestürzt, vor ein paar Tagen», knurrte er knapp. «Treppe.»
Er warf mir einen misstrauischen Blick zu, als wäre ich schuld an seinem Treppensturz.
Ich nickte betont mitfühlend.
Das Wohnzimmer war übervoll mit alten Möbeln, und es roch abgestanden und staubig. Der Raum lag mehrheitlich im Schatten, nur der Schein einer einzelnen, stoffbeschirmten Tischlampe kämpfte erfolglos gegen die einfallende Dämmerung an. Ein eigenartiger, altbackener Raum, wie aus einer anderen Zeit. Und überaus deprimierend.
«Hier.»
Max Weber deutete auf ein Festnetztelefon, das auf einem Tischchen neben der altmodischen Couch stand. Es hätte mich nicht gewundert, ein Bakelit-Telefon mit Wählscheibe vorzufinden, aber es handelte sich um ein modernes, schnurloses Gerät. «Danke sehr», sagte ich artig, und unter dem dräuenden Blick meines unfreiwilligen Gastgebers, der sich mit vor der Brust verschränkten Armen neben mir aufgebaut hatte und mich scharf im Auge behielt, wählte ich eine Nummer. Sorgsam drückte ich mir den Apparat ans Ohr.
«Restaurant Beau Rivage, ja bitte?», erklang eine frische weibliche Stimme.
«Florian, bist du es? Gott sei Dank!», sagte ich erfreut.
«Wie? Da muss ein Irrtum vorliegen. Sie sind mit dem Restaurant Beau Rivage in Thun verbunden.»
«Du, ich habe hier einen kleinen Notfall. Ja, wirklich doof. Mein Fahrrad ist kaputtgegangen, ganz unvermittelt. Die Achse, hat Martin gemeint. Könntest du uns abholen kommen?»
«Bitte? Offensichtlich haben Sie sich verwählt. Ich …»
«Ja, zum Glück hast du an deinem Auto einen Veloträger montiert, sonst wäre es problematisch geworden. Wie – erst in einer halben Stunde? So was Blödes! Vorher geht es nicht?»
«Ich muss Sie bitten …»
«Bei dieser Kälte draussen kann eine halbe Stunde echt lang werden. Aber gut, da kann man nichts machen. Wir sind in Amsoldingen. Irgendwo an der kleinen Strasse, die zum Uebeschisee führt, dort, wo wir kürzlich mal entlangspaziert sind, erinnerst du dich? Du wirst uns schon finden. Beeil dich bitte, ja? Du weisst ja, ich friere so leicht, und eine Erkältung kann ich jetzt nicht brauchen. Ciao!»
Die zunehmend empörten Ausrufe meiner Gesprächspartnerin ignorierend, beendete ich das Gespräch kurzerhand.
«So, das wäre geschafft», meinte ich, und sah mit einem betont reizenden Lächeln zu Max Weber auf. «Mein Mann kommt uns abholen, aber er schafft es erst in einer halben Stunde.»
Falls ich gehofft hatte, dass Max Weber lebhaften Anteil an meinem Schicksal nehmen und uns spontan Unterschlupf und heisse Getränke für die Wartezeit anbieten würde, hatte ich mich getäuscht.
«Es ist richtig kalt, nicht wahr?», fuhr ich unbeirrt fort. «Sobald die Sonne weg ist, wird es richtig klamm. Brr!», machte ich, und versuchte mich einmal mehr an einem anrührenden Augenaufschlag. Erfolglos. Max Weber starrte mich weiterhin wortlos an.
Ich konnte kaum fassen, dass dieser alte Grantsack früher über Jahrzehnte ein Hotel geführt haben und damit ein erfahrener Gastwirt sein sollte. Hatte ich mich allenfalls doch in seiner Identität getäuscht?
Aber nein, die markanten Züge waren unverkennbar. Das war Max Weber, der frühere Besitzer und Direktor des Hotels Weisses Kreuz in Bern. Oder das, was heute von ihm übrig war. Besonders alt konnte der Mann nicht sein, meinen Berechnungen nach vielleicht Mitte siebzig, und körperlich wirkte er noch fit, kräftig und aufrecht. Aber dennoch hatte er etwas Uraltes an sich, eine drückende Schwere, etwas Stumpfes. War der Mann am Ende dement?
«Wäre es allenfalls möglich, dass mein Kollege und ich bei Ihnen drinnen warten könnten?», schlug ich nun konkret vor, jedes Wort deutlich betonend. «Wir möchten Ihnen natürlich nicht zur Last fallen, aber wenn wir eine halbe Stunde draussen in der Kälte stehen müssen, dann holen wir uns den Tod. Leider gibt es auch kein Restaurant in der Nähe, in dem wir uns aufwärmen könnten. Ich weiss, es ist eine Zumutung. Wir würden Sie aber auch ganz bestimmt nicht stören.»
Er funkelte mich grollend an. «Geht nicht», schnarrte er kurz angebunden. «Ich muss jetzt dann gleich weg. Dringender Termin.»
Das kannst du deiner Grossmutter erzählen, dachte ich, nun ernsthaft verärgert.
Das durfte doch nicht wahr sein! Was für ein Miesepeter. Der Direktor des «Grand Blanc» hatte nicht übertrieben.
Ich spürte, wie die Frustration über mir zusammenschlug. Die ganze Mühe, die endlose Radtour, die Anstrengung, die Planung. Für nichts und wieder nichts.
Ich hatte nicht das Geringste erreicht, und wir waren keinen Schritt weiter als zuvor. Eher noch im Gegenteil.
«Nun gut, dann will ich Sie nicht länger behelligen», meinte ich resigniert. «Was verlangen Sie für den Anruf?»
Weber schüttelte den Kopf. «Schon gut», brummte er.
Folge 58
Ich nickte dankbar, den Hals unterwürfig gebeugt, setzte mich dann in Bewegung, in Richtung Haustür, die Schultern hängend, meine Körperhaltung ein einziger Ausdruck von Verzweiflung und Tragik, in der Hoffnung, dass meine geballte weibliche Hilflosigkeit sein hartes Herz doch noch erwärmen würde.
Es kümmerte ihn keinen Dreck.
Und auf einmal ballte sich Wut in mir, eine unbändige, impulsive Wut. Zwei Armlängen von Weber entfernt blieb ich stehen, wandte mich ihm zu, nun schnurgerade aufgerichtet, die Hände in die Hüften gestemmt, das Kinn erhoben, der Blick eiskalt.
«Haben Sie Ihren Bruder Erich in den Tod gestossen?», hörte ich mich fragen.
Ein zwei Herzschläge standen wir beide wie erstarrt, bewegungslos, als wären wir in einem Standbild gefangen, ich selbst mindestens so überrascht über meine Worte wie er.
Dann brach die Hölle los. Max Weber bäumte sich auf wie ein angeschossenes Tier, wie ein alter, gewaltiger Löwe.«Wie können Sie es wagen!», dröhnte er, die Augen weit aufgerissen, die Züge verzerrt. Er hob seinen massiven Holzstock in die Luft und holte mit erschreckender Geschwindigkeit aus.
«Wie können Sie es wagen!», brüllte er erneut, der Stockknauf fuhr herab, durchschnitt die Luft, und hätte ich mich nicht mit einer raschen Drehung in Sicherheit gebracht, hätte er mir die Schulter zertrümmert. Schneller, als ich dem alten Mann zugetraut hätte, stürzte Max Weber vorwärts, die Linke, eine gewaltige Pranke, nach mir ausgestreckt. Hastig wich ich vor seiner Wut zurück, stolperte rückwärts, wandte mich dann um und stob so rasch wie irgend möglich weg von dem Alten, durch den Gang. Ich riss die Haustür auf und warf mich hindurch.
«Abflug!», brüllte ich Martin mit sich überschlagender Stimme zu, und der liess sich nicht zweimal bitten, sondern warf sich in den Sattel, mir mein Fahrrad aufstiegsbereit hinhaltend, und unter dem Wutgebrüll des herannahenden alten Mannes traten wir panisch in die Pedale und schossen davon, in die winterliche Dämmerung hinein. Vergessen waren Müdigkeit und Verdruss, der Schrecken verlieh mir Flügel.
Und nie, so sagte ich mir, während der eisige Wind mir um die Ohren pfiff, würde ich jemals an diesen furchtbaren Ort zurückkehren.
Kapitel 16
«Ich kann einfach nicht glauben, was wir da machen», sagte ich nur zwei Tage später mit hohler Stimme.Im Rückspiegel wechselte ich bedeutungsvolle Blicke mit Martin und Eric. Beiden waren, genau wie mir, Sorge und Zweifel ins Gesicht geschrieben. Nur Anna schien vollkommen unbeeindruckt.
«Halt an», befahl sie mit fester Stimme. «Das ist nahe genug. Ich will nicht, dass er die beiden Männer sieht.»Nach einem weiteren bedeutungsschwangeren Blick in den Rückspiegel hielt ich folgsam am Wegrand an und schaltete den Motor aus.
«Steigen wir aus», sagte Anna und machte sich am Verschluss ihres Sicherheitsgurtes zu schaffen.
«Anna.» Ich ergriff ihren Arm, und sie hielt inne. «Es ist Wahnsinn, das wissen wir alle, und du kannst es dir jetzt noch anders überlegen. In einer Minute ist es zu spät.»
Sie musterte mich mit schlecht verhohlener Ungeduld. «Das haben wir doch schon besprochen.»
«Ja», erwiderte ich hitzig, «wieder und wieder – aber du hörst nicht zu! Du beharrst stur auf deinem Willen und ignorierst unsere Argumente komplett. Es kann nicht gut gehen!»
«Es wird gut gehen», erwiderte Anna im Brustton der Überzeugung. «Ich weiss es.»
«Mutter, bitte.» Eric beugte sich von der Rückbank her vor und berührte Anna an der Schulter. «Lass es bleiben, mir zuliebe. Ich verstehe ja, dass es wichtig für dich ist, ich sehe, was deine Überlegungen dabei sind, aber ich mache mir die grössten Sorgen. Max Weber ist kein vernünftiger Mann. Er ist voller Wut, voller Aggression. Hast du denn nicht ernst genommen, was Kassandra über ihn berichtet hat?»
«Max Weber ist vor allem ein alter Mann, er steht am Ende seines Lebens und sieht sich mit den Geistern der Vergangenheit konfrontiert», antwortete Anna unbeirrt. «Er hat Angst.»
«Angst?», rief ich empört aus. «Max Weber, Angst? Der Mann hätte mir mit seinem Stock den Schädel gespalten, wenn ich nicht schnell genug abgetaucht wäre. Der hatte keine Angst!»
«Als Psychiaterin solltest du solche Dinge wirklich besser verstehen, Kassandra», massregelte sie mich streng. «Hinter Zorn versteckt sich häufig Angst. Max Weber wird uns nichts tun.»
«Dein Glaube an die Menschheit in allen Ehren», schaltete sich nun auch noch Martin ein, der hinter mir auf der Rückbank sass. «Aber die forensischen Psychiater sagen: Der beste Prädiktor für zukünftiges Verhalten ist vergangenes Verhalten. Vor zwei Tagen hat ein einziger Satz von Kassandra bei diesem Mann eine explosive, gefährliche Reaktion ausgelöst. Weshalb sollte es heute anders sein?»
«Weil heute ich es bin, die mit ihm redet», entgegnete Anna knapp, schüttelte unsere Hände ab, löste den Sicherheitsgurt und öffnete die Autotür.
«Wie ist es, Kassandra, willst du jetzt dabei sein, oder machst du dir in die Hosen? Mir ist es gleich, ich gehe ohnehin lieber allein.»
Ich beeilte mich, meinerseits aus dem Auto zu steigen. «Aber Martin und Eric sollten uns begleiten», appellierte ich. «Zumindest das. Wenn zwei kräftige Männer dabei sind, wird Max Weber hoffentlich nicht ausfällig werden. Und die beiden sind eigens früher von der Arbeit weg, um dir zur Seite zu stehen. Wäre es da nicht dumm, sie im Auto warten zu lassen?»
Folge 59
«Ich mag nicht mehr darüber diskutieren», beharrte Anna. «Komm du mit oder lass es bleiben, aber ich will keinen der Männer dabeihaben. Ihre Anwesenheit würde stören.»
Ich gestikulierte hilflos in Richtung von Martin und Eric, die uns ungläubig und beklommen nachstarrten, und hastete dann Anna nach, die entschlossen ausschritt.
Martin stieg aus dem Auto. «Ich fahre den Wagen auf den nächsten öffentlichen Parkplatz», rief er uns nach, «und halte mich bereit, ja? Ruf sofort an, wenn etwas ist, und wir sind in wenigen Minuten bei euch!»
Ich hob den Daumen, was mehr Zuversicht ausdrückte, als ich empfand. Auch wenige Minuten konnten unendlich lang werden, besonders, wenn ich eine zerbrechliche Frau vor dem Zorn eines massigen, jähzornigen Alten beschützen musste.
«Viel Glück», rief uns nun auch Eric nach, den Kopf aus dem offenen Fenster gestreckt, und in seiner Stimme klang Beklommenheit mit.
Ich hob erneut den Daumen, beeilte mich dann, Anna einzuholen.
Wir brauchten nur wenige Minuten, um Max Webers Haus zu erreichen, das sich im feuchten, kalten Nebel, der heute über der Landschaft lag, zu ducken schien.
«Anna, bist du dir wirklich, wirklich sicher?», versuchte ich es ein letztes Mal, als sie unbeirrt auf die Haustür zumarschierte.
Anna verzichtete auf eine Antwort. Stattdessen drückte sie dezidiert auf den Klingelknopf. Lange, kräftig und sehr nachdrücklich erklang im Haus die Türklingel.
Ich spürte, wie meine Knie zitterten. Ich hatte den Schrecken der letzten Begegnung in diesem Haus noch nicht abgeschüttelt.
«Es ist Wahnsinn», wiederholte ich halblaut. «Was, wenn er vor Aufregung einen Herzinfarkt macht?»
«Dann kannst du ihn reanimieren. Trifft sich doch gut, wenn eine Ärztin in Griffnähe ist», erwiderte Anna lapidar. Ich musste über sie staunen.
«Ah, ich glaube, ich höre etwas.» Tatsächlich liessen sich im Innern des Hauses wieder die Geräusche herannahender schwerer Schritte vernehmen.
Mein Herz veranstaltete einen Trommelwirbel. Was machten wir hier, um Himmels Willen? Warum hatte ich sie nicht davon abhalten können?
Die Tür öffnete sich, und ich schickte ein Stossgebet zum Himmel.
Die grobgeschnitzten Gesichtszüge des grossen Mannes blieben unbewegt, während er die ihm unbekannte alte Frau musterte, die an seiner Tür stand.
Dann fiel sein Blick auf mich. «Sie schon wieder!», knurrte er, und es klang wie ein Donnergrollen. Blinder Zorn flackerte in seinem Blick auf, seine mächtige Gestalt streckte sich, Aggression pulsierte in der Luft, und ich griff schon nach Annas Oberarm, bereit, sie mit einem mächtigen Ruck ausser Reichweite seines massiven, knorrigen Stockes zu zerren und mich zwischen die beiden zu werfen, ihm entgegenzutreten, wie auch immer.
«Lassen Sie das», sagte Anna unaufgeregt und trat einen Schritt näher an Max Weber heran, furchtlos und gelassen.
«Mein Name ist Anna Dubach, geborene Haldemann. Ich war vor fünfzig Jahren die Verlobte Ihres Bruders Erich. Dürfen wir eintreten?»
Max Weber prallte zurück, starrte sie an.
Ich hielt den Atem an.
Einige Herzschläge lang erkannte ich in seinen Augen das in die Enge getriebene Raubtier, das sich auf den Sprung vorbereitet, seinen ersten, tödlichen Hieb plant.
Anna indes stand einfach da, hoch aufgerichtet, ruhig, voller Würde.
Wortlos sah sie ihn an. Ihr Blick war konzentriert, neugierig. Fast mitfühlend. Und unter diesem Blick, es war nicht zu fassen, brach die Spannung, die sich explosionsartig im Innern des alten Mannes aufgebaut hatte, in sich zusammen. Seine Schultern sackten herab, seine Miene erschlaffte.
Er sagte nichts. Aber ich erkannte ein winziges, resigniertes, nur angedeutetes Nicken seines Kopfes. Dann trat er beiseite und liess uns ein.
Wenige Minuten später sassen wir in Webers Wohnzimmer, Anna und ich nebeneinander auf dem hart gepolsterten, unbequemen Sofa.
Max Weber hatte sich in einen breiten Sessel fallen lassen. Er schwitzte.
Ich spürte die brettharte Anspannung meiner grossen Skelettmuskeln. Ich war wachsam, ich beobachtete jede Regung in Webers Gesicht und Körper, bereit, sofort einzugreifen.
«Was wollen Sie?», fragte er Anna mit krächzender Stimme.
«Die Wahrheit über Erichs Tod», sagte diese.
«Was soll das heissen?», begehrte Weber heftig auf. Seine Gesichtsfarbe kippte in ein dunkles Purpurrot, seine Hand umklammerte seinen Stock, und ich sah mich hektisch im Raum um, auf der Suche nach Gegenständen, die ich im Bedarfsfall als Waffe benutzen konnte. Die Situation konnte jeden Augenblick entgleisen.
«Was bilden Sie sich ein? Kommen einfach daher und belästigen mich mit Fragen über Erich. Die da», anklagend richtete er den Zeigefinger auf mich, «hat sich vorgestern hier eingeschlichen, unter einem Vorwand, um mich auszuspionieren! Hat mich provoziert, beschuldigt! Von wegen kaputten Fahrrades - gelogen war das! Dafür könnte ich sie anzeigen! Ja, das sollte ich tun - die Polizei rufen, wegen Hausfriedensbruch und Verleumdung! Ich will Sie lehren, mir dumm zu kommen!»
Anna schwieg. Sie sass nur da, unbeweglich, und blickte ihn an, wieder diese neugierige Konzentration vermittelnd, das Mitgefühl.
Ich schluckte alle harten Gegenworte, die sich auf meiner Zunge formierten, herunter, tat es ihr gleich und schwieg.
Weiterlesen können Sie hier: «Jenseits der Gier Folgen 60 – 89»
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