«Merkels bitterste Niederlage»
In der Koalition rumort es gewaltig: Der Machtpoker um die Nominierung von Joachim Gauck belastet das Verhältnis zwischen Union und FDP schwer. Wird Gaucks Wahl Merkel am Ende eher schaden oder nützen?

Die FDP hatte sich am Sonntag gegen den Willen der Union hinter den von SPD und Grünen favorisierten Kandidaten Gauck gestellt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) konnte eine Eskalation des Streits nur durch ihr Einlenken abwenden.
Unionsfraktionsvize Michael Kretschmer (CDU) warf der FDP einen «gewaltigen Vertrauensbruch» vor. Dies werde schwere Folgen für die Koalition haben, sagte er der «Leipziger Volkszeitung». «Unter Hans-Dietrich Genscher oder Klaus Kinkel wäre ein solches Verhalten undenkbar gewesen».
«Keine Sorge»
Führende Unionspolitiker sind über das Vorpreschen der FDP zugunsten von Joachim Gauck verärgert. Sie drohen mit Konsequenzen für die weitere Zusammenarbeit. Die Opposition in Berlin wertete den Streit als Zeichen für einen fortschreitenden Zerfallsprozess in der Koalition.
Doch die deutsche Regierung winkt ab: Nach der zähen Kandidatenkür für den neuen Bundespräsidenten bestreitet sie eine Zerreissprobe bei Schwarz-Gelb. Man brauche sich «um die Koalition, über den Bestand, überhaupt um die Bundesregierung gar keine Sorgen zu machen», sagte Regierungssprecher Steffen Seibert heute in Berlin.
In den deutschen Medien fallen die Kommentare über das Einlenken der Bundeskanzlerin unterschiedlich aus. «Angela Merkel verkauft das Tauziehen um den künftigen Bundespräsidenten als kluges Einlenken, doch in Wahrheit hat ihr die Personalie Gauck die bitterste Niederlage ihrer Amtszeit eingebracht», meint Christoph Schwennicke in seinem Kommentar auf «Spiegel online». Mit der FDP, SP und den Grünen hätten sich drei Parteien gegen sie verbündet, von denen zwei bereits sehr schmerzhafte Erfahrungen als Koalitionspartner gemacht hätten. Fazit: «Die Kanzlerin ist einsamer geworden.»
Misserfolg oder Kalkül?
Auch die «Financial Times Deutschland» sieht Merkel im Nachteil. «Merkels Gauck-Gau», titelt sie in ihrem Kommentar. «Dass Merkel am Ende einknickte und Gauck zustimmte, wirkte auf den ersten Blick wie Kompromissbereitschaft. In Wahrheit hat die Kanzlerin nur gemerkt, dass ihr die Felle davonzuschwimmen drohten.»
Die «Frankfurter Rundschau» wertet den Machtpoker Merkels anders. «Was wie eine Niederlage für die Kanzlerin aussieht, muss keine sein.» Denn der positive Effekt dieser überparteilichen Einigkeit werde am Ende an Merkel hängen bleiben. Mit dem Ausblick auf die Wahlen habe sie bereits Möglichkeiten für neue Koalitionspartner ausgelotet. Langfristig werde die FDP als Verliererin dastehen.
Der Ärger der CDU-Spitze
Die CDU-Spitze bemühte sich derweil mit begrenztem Erfolg, die Diskussion über das Verhalten der FDP einzudämmen. Die Gespräche mit der FDP über Gaucks Nominierung seien «mitunter nicht leicht verlaufen», räumte CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe im ZDF ein. Er rate nun aber dazu, «nicht öffentlich nachzukarten». Dies verbiete allein schon die Würde des höchsten Staatsamts.
Der Unmut in der Union schwelte aber weiter. Die FDP vertrete offenbar die Auffassung, sie könne «auch ohne die Union zu einer Entscheidungsfindung beitragen», sagte der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach auf n-tv. Die Union werde das «bei einer sach- oder bei einer personalpolitischen Entscheidung in Zukunft auch einmal genauso sehen».
«Wir müssen uns nicht gegenseitig drohen»
Auch die FDP bemühte sich am Montag um Deeskalation. Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) wies den Vorwurf des Vertrauensbruchs zurück. «Da habe ich überhaupt kein Verständnis dafür», sagte er im Deutschlandfunk. Die Unterstützung der FDP für Gauck sei nicht als Warnsignal an die Union zu verstehen: «Wir arbeiten vertrauensvoll in der Koalition zusammen, wir müssen uns nicht gegenseitig drohen.»
FDP-Vizechef Holger Zastrow sagte dem «Tagesspiegel», seine Partei wolle die Koalition fortsetzen, «weil wir überzeugt sind, dass sie gut für Deutschland ist». Vizeparteichefin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sagte, die «höchste Priorität» für die FDP sei gewesen, eine «respektierte Persönlichkeit» zu nominieren. Aussenminister Guido Westerwelle (FDP) erklärte, er freue sich «über die parteiübergreifende Einigkeit».
«Eine zerrüttete Ehe»
Die Opposition hingegen wertete den Streit zwischen Union und FDP als Beleg für eine Krise der Koalition. Durch das Bündnis gehe «ein tiefer Riss», sagte Grünen-Chef Cem Özdemir in Berlin. «Selbst das Vertrauen im Kalten Krieg ist grösser gewesen als jetzt bei Schwarz-Gelb.» SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles sagte auf N24, die Koalition wirke wie eine «zerrüttete Ehe».
Linken-Chef Klaus Ernst sagte, Merkel habe einem «Erpressungsmanöver» der FDP nachgegeben. Gegenüber der «Passauer Neuen Presse» kritisierte er erneut, dass seine Partei von der Kandidatenkür ausgeschlossen gewesen sei.
Grüne und SPD sahen sich am Montag mit Fragen konfrontiert, ob Gaucks politische Positionen nicht im Widerspruch zu ihren eigenen stünden. Mit Blick auf Gaucks kritische Äusserungen etwa zu sozialen Protestbewegungen sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel, er habe keine Probleme damit, wenn Gauck «nicht sozialdemokratische Hauspropaganda vertritt». Grünen-Chef Özdemir räumte ein, dass Gauck Meinungen vertrete, «die nicht unsere Meinungen sind». Seine Partei freue sich aber «auf spannende Gespräche mit ihm».
AFP/jak
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