Trip ins wilde Ur-Ich
Im Allgäu boomen Überlebenscamps. Das Hardcore-Experiment in der Natur wird zur Selbsterfahrung.

Eine Stunde hat es bis zum ersten Rauchzeichen gedauert. Wir werten es als Friedensangebot der Natur. Schliesslich haben wir uns abgemüht, ein Feuer nur mit dem hinzukriegen, was die Allgäuer Landschaft im Angebot hat. Wir haben trockenes Gras gesammelt und in Hochgeschwindigkeit übers Holz gerieben. Alles, was wir erreichen, ist Schall und Rauch. Dumm, dass man in der Wildnis je nach Wetter ein Feuer entfachen muss, um mehrere Tage oder gar Wochen zu überleben. Zum Glück dauert unsere Zivilisationsflucht nicht so lange. Streng genommen ist es eine Übung, ein trendiges Vergnügen für gestresste Grossstädter unter dem Motto zurück zu den Wurzeln, zu mir, zum Wesentlichen.
Unser Wildnistraining findet im Trettachtal bei Oberstdorf statt. Das Abenteuer leitet Sven Gittermann, ein kräftiger Bursche, dem man blind durch die Wälder folgen würde. Wenn nicht dauernd seine Aufforderungen kämen: «Jetzt bist du dran» – beim Feuermachen, beim Lagerbau, beim Wegesuchen. Aber das ist ja Sinn und Zweck der Übung. Die Ausgangssituation heute Morgen sah so aus: Wir sind mit dem Boot irgendwo im Nirgendwo gestrandet. Die Ausrüstung ist futsch, wir müssen überleben und zusammenhalten. Also schleppen wir Holz herbei, grosse Stämme und kleine Äste, und konstruieren einen Naturschlafsack. Er erinnert mehr an ein Biwak, abgedeckt mit Reisig und vollgestopft mit Blättern. Beim Probeliegen stösst man mit der Nase überall an. Man ahnt, wie unbequem die Nacht wird.
Selbst Nonnen wollen zurück zur Natur
Gittermann bietet sein Wildnistraining als Tages- oder Wochenprogramm an. Manchmal kommen Familien, die mehrere Nächte mit ihm draussen verbringen wollen. Kürzlich war ein Paar aus Frankfurt da, mit dem der Allgäuer tagelang durch die Berge zog. Es melden sich Hausfrauen, die einmal Wildnisluft schnuppern wollen. Österreicher, Schweizer, Deutsche, sogar Nonnen liessen sich von Gittermann in die Überlebenskunst einführen. Und natürlich kommen Leute, die es extremer wollen, ehemalige Soldaten. «Manchmal muss ich den Rambo einfangen und die Leute runterholen», sagt Gittermann.
Warum die Camps und Kurse so gefragt sind, lässt sich nicht nur damit erklären, dass die Teilnehmer Ruhe suchen und die Nase voll haben von Twitter, Trump und TV. Es gibt, wissenschaftlich verbrieft und tief im Menschen verankert, die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit. Natur ist positiv besetzt und deswegen erstrebenswert. Die Autoren des Buches «Sehnsucht nach Natur» haben herausgefunden, dass derartige Erlebnisse die physische und psychische Gesundheit fördern. Die schlichte Feldforschung von Gittermann hat ergeben: «Es existieren sehr viele suchende Menschen, die sich an etwas festhalten wollen. Und hier finden sie die Antwort. «Der Allgäuer zeigt auf den Grossen Krottenkopf, die wilde Trettach, den dunklen Wald.
Die Gedanken ruhen, dafür sind die Augen überall
Die einfachste Definition von Wildnis ist vielleicht schon die Abwesenheit von Mensch und Zivilisation. Sie ist überraschend schnell erreicht. Keine 300 Meter Luftlinie von unserem Camp entfernt liegt der Startpunkt für den prominentesten Part der Weitwanderroute E5, den jedes Jahr im Sommer zigtausend Alpenüberquerer absolvieren. Wir bekommen vom Trubel nichts mit. Keiner der Wanderer kommt auf die Idee, den Pfad hinüber zum Fluss zu nutzen.

Manch einer könnte das bedauern, wenn er wüsste, dass hier nicht nur Überlebens-, sondern auch Lebensschule stattfindet. Die Kernbotschaft der Wildnisphilosophie lautet: Gehe achtsam mit dir selbst um. Wer durch den Wald streift und im Rollenspiel stets auf der Hut vor Gefahren oder auf der Ausschau nach Jagd- oder Sammelobjekten zu sein hat, muss die Augen überall haben. Die Gedanken ruhen, der Blick ist nicht mehr stur nach vorne oder unten gerichtet. Man entdeckt neue, schöne, überraschende Dinge abseits des Weges.
Die Wunde wird mit Breitwegerich verarztet
Mehr und mehr gerät das Wildniscamp zum Selbsterfahrungstrip. Wir üben barfuss den Foxwalk, der sich zum Anschleichen eignet. Dabei setzt man zuerst den kleinen Zeh und den Aussenfuss auf. Das hat den angenehmen Effekt, dass nicht gleich das komplette Körpergewicht auf den steinigen Untergrund drückt und Schmerzen verursacht. Dabei bewegen wir uns sehr leise und nehmen die Geräusche im Wald intensiver wahr. Alle Sinne dürfen mitmachen beim Ich-entdecke-mich-und-die-Umwelt-völlig-neu-Spiel.
Die Gruppe schnüffelt durch den Wald auf der Suche nach Kräutern und Pflanzen. «Man kann mehr Pflanzen essen, als man denkt», sagt Veronika Lindlbauer, welche die Kurse zusammen mit Gittermann anbietet. Löwenzahn ergibt einen feinen Salat, rosa Kleeblüten leckeren Tee, mit Dost können wir würzen, Mädesüss hilft bei Kopfschmerzen. Kleine Schnittwunde? Kein Problem. Man muss nur ein paar Blätter Schafgarbe kauen und auf die Haut geben. Ein Blatt vom Breitwegerich drauf, mit einem Grashalm zubinden, und fertig ist das Wildnispflaster.
Zum Glück gilts nicht ernst
Wer der Wildkräuterführerin folgt, kann sich einen Reim darauf machen, warum es ausgerechnet im Allgäu so viele Wildnisschulen und -lehrer gibt. Eine einfache Google-Abfrage spuckt ein Dutzend Anbieter für die Region aus, mit denen man von Familien-Workshops bis Hardcore-Überlebenstraining alles machen kann. Das Wissen rund um das Thema Kräuter ist im Allgäu nie ganz ausgestorben. Die Menschen sind heimatverbunden und wollen wiederentdecken, worauf ihre Grossmütter nicht verzichten wollten.
«Die Natur lehrt uns Menschen Geduld und Ruhe», sagt Gittermann. Auch wenn Dinge nicht funktionieren, man lernt stets etwas, das einen im Leben weiterbringt. Wenns im Ernstfall wirklich ums Überleben gegangen wäre, wären wir gnadenlos gescheitert. Zumindest ohne Sven Gittermann. Er entzündete das Feuer in zehn Minuten. Danach war nur noch Grillieren und Chillen angesagt. Gehört auch zur Wildnis.
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