Voll in der WolleStrick-Altmeisterin und junger Häkler zeigen sich ihre Maschen
Junge Leute stricken im Zug – wie das früher Grosstanten taten. Patrick Buchmann (26) aus Bümpliz besucht Annarös Mosimann (83) im Emmental.

Über die Ostertage publizieren wir aufsehenerregende Texte der letzten Monate nochmals. Dieser Artikel erschien erstmals am 30. März 2023.
Patrick Buchmann ist 26, Konstrukteur und wohnt in Bümpliz. Annarös Mosimann ist 83, pensionierte Bäuerin, inzwischen Urgrossmutter und wohnt in Wasen im Emmental. Sie kannten sich zuvor nicht. Nun treffen sie sich auf Einladung dieser Zeitung, weil zwei Dinge sie verbinden: Nadel und Wolle. Er häkelt, sie strickt. Beide tun das mehrmals pro Woche.
Doch sind die Leute heute diesbezüglich noch gleich gestrickt wie früher?
Vom Techno zur Örgelimusik
Auf dem Weg zu Annarös Mosimann drang durch die Kopfhörer von Patrick Buchmann noch Techno. Als er – schwarze Baseballmütze, schwarze Ohrstecker, schwarzes Septum-Piercing – in ihr Wohnzimmer tritt, läuft dort Örgelimusik.
Sie trägt ein violettes Oberteil mit Sujets in Gelb, Rot und Weiss, das ihr eine Freundin gestrickt hat. Mosimann und Buchmann nehmen ihre Wollsachen hervor und kommen auf den «Köbu» zu sprechen, der für beide ein Begriff ist. Gemeint ist der Jakob-Markt in Zollbrück. Am liebsten kaufe sie ihre Wolle aber im Fabrikladen in Lotzwil, er seine im Bastelzentrum in Bern. Sie ist bunt gekleidet, er schlicht bis düster. Doch: Beim Stricken bevorzugt sie schlichte Farbtöne. Er sagt, er «liebt» – dabei zieht er das «ie» lang – knallige Farben.
Auf dem runden Holztisch liegt eine beige Tischdecke. Diese gehört zu den seltenen Objekten, die sie gehäkelt hat. Was sie in ihrem Leben alles gestrickt hat, da hat Annarös Mosimann den Überblick verloren. Beschränkt auf einen kürzeren Zeitraum kann sie jedoch sagen: «In einem Jahr habe ich 75 Paar Socken gestrickt.»

«Inesteche, umeschlah, dürezieh und abelah» hat Mosimann von ihrer Grossmutter gelernt, noch bevor sie eingeschult wurde. «Meine Strumpfhosen habe ich selber gestrickt.»
Häkeln statt Ausgang
Buchmann hat mit seiner Grossmutter als 12-Jähriger einmal einen Schal gestrickt. Danach verknüpfte er zehn Jahre keine Masche mehr.
Vor der Pandemie ging Buchmann praktisch jedes Wochenende in den Ausgang. Als vor drei Jahren der erste Lockdown ausgerufen wurde, war er auf sich selbst gestellt und merkte: «Ich brauche ein Hobby, sonst dreh ich durch.» Da begann er für seine Freundinnen und Freunde Topflappen zu häkeln. Mittlerweile ist er mit ihnen zusammengezogen. An Topflappen mangelt es ihnen nicht.
#knitstagram
Die Beschäftigung, die lange Zeit hauptsächlich mit Müttern oder Grosstanten assoziiert wurde, ist längst wieder bei jungen Erwachsenen angekommen. Gehäkelt und gestrickt wird überall – im Zug, bei Treffen mit Freundinnen oder sogar im Berner Stadtrat. Gepostet und angeboten werden auf Instagram Tops und Taschen oder Mützen und Schals.
Unter dem Hashtag #knitstagram, der sich aus «knit» für Stricken und «Instagram» zusammensetzt, gibt es 4,3 Millionen Beiträge. Das Schweizer Online-Warengeschäft Galaxus meldet, dass es letztes Jahr 27 Mal mehr Nadeln und Wolle verkauft hat als 2019.
«Wenn ich im Zug Wolle und Nadel aus dem Rucksack ziehe, werde ich dementsprechend angestarrt.»
Patrick Buchmann ist also nicht der einzige junge Mensch, der häkelt. Aber unter ihnen sind Männer Ausnahmen. «Wenn ich im Zug Wolle und Nadel aus dem Rucksack ziehe, werde ich dementsprechend angestarrt», sagt er. Ältere Frauen fragten interessiert, was er gerade am Häkeln sei. «Sie ermutigen mich dann, unbedingt damit weiterzumachen.» Annarös Mosimann nickt und sagt: «Klar, warum sollten Männer nicht auch häkeln?»
Video vs. Strickheft
Um die Häkeltechnik aufzufrischen, hat Buchmann zu Beginn der Pandemie aber nicht bei seiner Grossmutter angeklopft. «Ich wollte es mir selber beibringen.» Also lernte er die Technik mithilfe von Videos, zuerst auf Deutsch, später auf Englisch – um die Herausforderung zu steigern. «Die Anleitungen in Strickheften geben mir aber den Rest, die sind so kompliziert», sagt er und streicht sich über das Gesicht.
«Ich habe Strickhefte gekauft, als diese noch günstig waren», sagt Mosimann. Manchmal hat sie auch ganz ohne Muster gestrickt – oder gehäkelt. Zum Beispiel die Decke, die auf ihrem «Ruhbett» liegt.

Auch Buchmann häkelt eine Decke. Schenken wollte er sie seiner Grossmutter. Doch dann starb sie. Nun koste es ihn mehr Überwindung, sie fertig zu häkeln. «Aber ich möchte sie fertig machen», sagt er.
Er habe immer mehrere Häkelprojekte gleichzeitig am Laufen. «Das könnte ich nie», entgegnet Annarös Mosimann. «Ich brauche Ordnung.»

Ab und zu habe er tatsächlich ein Chaos, sagt Buchmann und lacht etwas zerknirscht. Aber: «Ich bin schnell gelangweilt.» Dann brauche er ein neues Strickmuster beim Häkeln und lasse das alte liegen. Sobald ihm das neue verleidet, nehme er das alte Muster wieder auf. Momentan ist er an einer Tasche für eine Kollegin.

Umhäkelte Nastücher
Auch Mosimann hat Netztaschen für andere Frauen selber gehäkelt. Manchmal hat sie präziseste Häkelkunst verrichtet. Sie holt aus einer Holzschachtel eine Nadel heraus, an deren Ende man das Häkchen kaum erkennt, so klitzeklein ist es. «Damit haben Sie gehäkelt?», fragt Buchmann erstaunt und fügt hinzu: «Das hätte ich nie gekonnt.» Sie lächelt leicht nostalgisch, leicht schelmisch und sagt: «Mit diesem Häkchen habe ich Stoffnastücher umhäkelt.»

Von den umhäkelten Tüchern hat sie keines mehr – alle verschenkt. Und auch die alten Strickhefte sind weg – alle entsorgt. Als ihre Kinder noch klein waren, hat sie für sie Pullover gestrickt. Manchmal im Wartezimmer der Arztpraxis. Mittlerweile strickt sie seltener. Ihr Arm tut oft weh.
Doch als sie ihre «Lismete» und Buchmann seine «Häklete» hervornehmen, kommen beide aus dem Maschenverknüpfen fast nicht mehr heraus. Sie sind zwar in vielem ganz gegensätzlich. Doch sie verbinden zwei Dinge: Nadel und Wolle.
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