Vom Verding- zum Pflegekind
Ihr Schicksal ist ähnlich – und doch können heutige Pflegekinder vieles ganz anders erleben als die Verdingkinder aus früheren Zeiten. Dazu wollen Peter und Ursula Rentsch aus Wynigen mit ihrer Lebensgemeinschaft beitragen.

Und plötzlich war die drängende Frage da: Was werden wohl unsere Pflegekinder dereinst über uns sagen? Peter und Ursula Rentsch hatten eben in Bern die Ausstellung «Verdingkinder reden» besucht und liessen sich nun nochmals all die Schicksale durch den Kopf gehen, denen sie dort begegnet waren. In über 300 Hör- und Videodokumenten hatten Betroffene aus ihrer Kindheit fern der eigenen Familie erzählt, aus ihrer Zeit bei fremden Leuten, im Heim oder klassischerweise auf einem Bauernhof, aus einer Vergangenheit auch, die zwar glücklich sein konnte, die sehr oft aber mehr von Schatten als von Licht geprägt war.«Ich ass nie am Esstisch», erzählte zum Beispiel Verdingkind Johann, «ich bekam das Essen in meinem Verschlag, ohne Fenster, neben dem Stall.» Ernst erinnerte sich daran, dass er von anderen Kindern gemieden wurde, «weil ich Verdingbub war». Heidy schliesslich ging deshalb gerne in die Schule, «weil ich dort nie geschlagen wurde».Noch immer hartNun liessen sich Peter und Ursula Rentsch von alledem umso stärker bewegen, als sie zu Hause ebenfalls fremde Kinder grossziehen. Zehn Plätze bieten sie in der Lebensgemeinschaft Sonnhalde in Wynigen an, vertreten sind alle Altersstufen vom anderthalbjährigen Kleinkind bis hin zum über 16-jährigen Lehrling. Gestern haben sie an einem die Ausstellung begleitenden Tag der offenen Tür einen Blick in ihr Zuhause zugelassen, das in den 12 Jahren seines Bestehens zu einem kleinen Heim mit neun Vollzeitstellen angewachsen ist. «Es ist immer hart, von den Eltern getrennt zu werden und dann in einem völlig fremden Umfeld aufwachsen zu müssen», schlägt Peter Rentsch den Bogen zurück zur Frage nach dem, was die eigenen Pflegekinder dereinst wohl über ihn und seine Frau sagen würden. Das sei heute noch genau gleich wie früher.Die Rolle der ElternUnd doch hat sich vieles geändert, allein in den über 20 Jahren, in denen Peter Rentsch als Erzieher tätig ist. Ein Thema ist ihm in dieser Zeit besonders wichtig geworden: «Die leiblichen Eltern spielen für ein Kind auch dann eine Rolle, wenn es an einem fremden Ort aufwächst. Deshalb beziehen wir sie möglichst in unseren Alltag ein. Und deshalb lassen wir uns bewusst als Peter und Ursula und nicht als Vati und Mueti anreden.»Die beiden erzählen vom kleinen Jungen, der seine Eltern bislang kaum länger zu Gesicht bekommen hat und trotzdem mit vertrauensvoller Zuneigung reagiert, wenn ihn Mutter oder Vater mal besuchen. Und sie kommen auf die problematischen Seiten zu reden, die diese Bindung in der Pubertät haben kann. Gerade, wenn die Eltern Mühe hätten, ihr Kind in einer Pflegefamilie zu wissen – nur zu gern übertrage sich dieser Konflikt auf das Kind, das sich in dieser Zeit ohnehin von seinem Umfeld abnable. Dann werde es schwierig.Wieder die alte PrägungFür die beiden steht zwar ausser Zweifel, dass sie als Pflegeeltern sehr wohl Verhaltensregeln vermitteln können. Ein Kind esse rasch mehr als nur die paar Fertigprodukte, die es von zu Hause kenne. Es gehe rasch allein ins Bett. Es erledige rasch seine Ämtli – all dies sei kein Problem, «solange wir hinschauen». Aber: Sobald die Kontrolle wegfalle, breche die alte Prägung durch. Und die sei nach wie vor stark vom, eben kaum erklärbaren, Einfluss der Eltern geprägt.Wie lange die Kinder an der Sonnhalde leben, ist sehr unterschiedlich. Es können, bei notfallmässigen Platzierungen etwa, nur einige Tage sein, es können Jahre sein – in dieser Zeit gehen die Kinder im Dorf zur Schule, packen dann ihre Ausbildung an. Sie entwickeln untereinander auch ein geschwisterliches Verhältnis, das ihre Zeit in Wynigen sehr oft überdauert.Viel partnerschaftlicherNochmals, was ist im modernen Heimbetrieb anders? Früher, so Peter Rentsch, habe die Institution bestimmt, wo es langgehe; die Kinder seien versorgt und oft auch zur aktiven Mitarbeit in Haus und Hof angehalten worden. Heute sei das Verhältnis auf allen Ebenen viel partnerschaftlicher. Zu den Eltern, zu den zuweisenden Behörden und zu den Kindern – «sie werden regelmässig gefragt, wie es ihnen gefalle».
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